„Der jahrhundertealte Einklang von Stadt und Land, der Italien zu Europas Garten werden ließ, ist eines gewaltsamen Todes gestorben. Seine Mörder waren keine barbarischen Invasoren, sondern selbstvergessene und die Gesetze missachtende Italiener“, ließ der geborene Kalabrese Salvatore Settis unlängst auf einem Vortrag hören. Der „Wolkenkratzer als Symbol unverblümter Modernität“ veranlasste sogar ein Architekturbüro (JDS) unter dem Wettbewerbstitel „Aqualta 2060“ den tatsächlich ernstgemeinten Vorschlag zu machen, Venedig mit einem Ring von Hochhäusern zu umgeben, die einen Blick auf die Altstadt wie auf einen „gloriosen Bühnenprospekt“ zuließen: ähnlich also auch dem Blick, den man „genießt“, wenn man die Lagunenstadt vom Deck eines Kreuzfahrtschiffes betrachtet. Die Unkultur, die in diesem Vorschlag steckt, spottet jeder Beschreibung, genauso wie die Durchquerung des Kanales della Giudecca auf einem Luxusliner, die Gemäuer der alten und ehrwürdigen Stadt erzittern lassen und das Grundwasser aufwühlen, wodurch die Kanäle in der Stadt verstopft werden, ein Unterfangen ist, das eigentlich per Gesetz unter Strafe stehen sollte. Wer dies trotzdem mit seinem Gewissen vereinbaren kann, sollte sich zumindest schämen und genau das fordert auch Settis: Schämt Euch! Empört Euch!
Dunkle Wolken über der Lagune
„Bis zu 60 Meter und höher, höher auch als die noblen Paläste des Canal Grande dringen diese Schiffe ein in das Herz von Venedig, um die Schönheit zu beschauen, während sie diese tatsächlich verdunkeln und beleidigen“, schreibt Settis. Man muss nur kurz an die Katastrophe der „Costa Concordia“ erinnern und kann den Schrecken noch steigern mit „Mona Lisa“, ein deutsches Kreuzfahrtschiff das die Riva degli Schiavoni – die Uferpromenade am Canale della Giudecca – 2011 um wenige Meter verfehlte. Braucht es ein Unglück solchen Ausmaßes wie das der Costa Concordia, damit endlich etwas geschieht? Eigentlich würden schon die amtlichen Statistiken über die Luftbelastung durch Benzopyren (500 Tonnen Feinstaub durch Ausstoß der Kreuzfahrtschiffe), die Verdrängung von Tausenden Tonnen Wasser und der signifikante Überschuss an Lungentumoren ausreichen, aber nein, es geht noch schlimmer. So kämpft etwa der Architekt Rem Koolhaas im Auftrag der Firma Benetton für die Errichtung von Rolltreppen im altehrwürdigen Fondaco dei Tedeschi, dem historischen Palast bei Rialto, der einst das Warenlagerhaus der Deutschen („Tedeschi“) war. Schließlich soll auch eine U-Bahn Venedig, Padua und Treviso verbinden, was Settis zurecht an ein Horrorszenario von H.G. Wells erinnert: die Bewohner unterirdisch, die Touristen oben in ihren Schiffshochhäusern.
“La più grande sciagura“
Der Vorschlag des Unternehmers Pierre Cardin, einen Riesenturm in Marghera zu errichten, erscheint wie eine zeitgenössische Rache einer vulgären Hypermoderne an einer unschuldigen Vergangenheit: Venedig steht als Symbol der Stadt mit menschlichem Maß im Kreuzfeuer der Modernisten, da es sich also einzige Stadt der Welt (!) nicht dem Automobil unterordnen lässt, es sei denn man schüttet den Canal Grande mit Asphalt auf und baut an einer Autobahn durch die Kanäle, wie es die Futuristen in den Zwanzigern forderten. Wenn Venedig stirbt, wird nicht nur Venedig sterben, sondern „die Idee der Stadt selbst, die Form der Stadt als ein offener, vielfältige und ziviler Raum des gesellschaftlichen Lebens“. „La più grande sciagura sono gli architetti“, sang einst zurecht Adriano Celentano: Die größte Schande des Planeten sind die Architekten.
Salvatore Settis
Wenn Venedig stirbt
Streitschrift gegen den Ausverkauf der Städte
Aus dem Italienischen von Victoria Lorini
Sachbuch. 2015
160 Seiten. 14 x 22 cm. Broschiert
14,90 € / eBook 12,99 €
ISBN 978-3-8031-3657-2
[*] Diese Rezension schrieb: juergen weber (2015-12-27)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.