Schon in seinem Roman „Der Gedanken an das Glück und an das Ende“ hatte 2014 der in Frankreich sonst für spannende Thriller bekannte Schriftsteller Jean-Luc Seigle sich mit einer einfühlsamen und poetischen Familiengeschichte mit etlichen in Frankreich gut gehüteten politischen und gesellschaftlichen Tabus befasst, unter anderem dem Krieg in Algerien und der in Frankreich sehr umstrittenen Rolle der französischen Armee im Kampf gegen Nazideutschland und die in dem Zusammenhang oft lächerlich gemachte Bedeutung der Maginot-Linie.
Nun legt er in einem weiteren kleinen Roman seine Version einer Lebensgeschichte einer Frau vor, die auch noch Jahrzehnte nach ihrem Tod in Frankreich kontrovers diskutiert wird.
Es geht um das Schicksal der Französin Pauline Dubuisson (1927-1963), das 1960 mit Brigitte Bardot in der Hauptrolle verfilmt wurde. „Die Wahrheit“ des Regisseurs Clouzot ist eine, wie Seigle in seinem Vorwort bemängelt, eindimensionale Darstellung und denunziert Pauline als eine kaltblütige Mörderin. Doch das ist nur ein Aspekt, denn:
„Paulines Verbrechen nimmt einen winzigen Moment in ihrem Leben ein, die Zeit, um drei Revolverkugeln zu verschießen, kaum eine Minute. Man kann sie mit dem schöpferischen Augenblick vergleichen, dem geheimnisvollen Phänomen des künstlerischen Schaffens, derselbe Taumel, dieselbe plötzliche Inspiration, dasselbe Von-sich-selbst-Fortsein, um mit Stefan Zweig zu sprechen. Doch das Verbrechen ist kein Wunder der Kreativität, es ist eine Lücke in Paulines Leben, ein Riss der sich in ihrem Dasein auftut, eine unendlich kurze verdichtete Zeit.“
Seigle hat sich lange mit dem Leben von Pauline befasst und versucht mit seinem Roman die Tagebücher und Hefte zu rekonstruieren, die nach ihrem Selbstmord 1963 verloren gegangen sind.
In der Ich-Form lässt er Pauline ihr Leben erzählen, ihre schwere Kindheit und Jugend, ihre frühe Suche nach Wärme und Liebe, die sie ihren Ruf kostete, ihre Sehnsucht nach einem Medizinstudium. Doch der Vater besteht auf einer Ausbildung zur Krankenschwester, die sie unter dem Wohlwollen des Vaters in eine Beziehung mit einem deutschen Wehrmachtsarzt führt.
Kurz vor Kriegsende wird sie von Männern der Resistance öffentlich kahlgeschoren (so wie viele andere Frauen damals) und fürchterlich missbraucht. Pauline gibt nicht auf, und beginnt Medizin zu studieren. Dabei trifft sie den Kommilitonen Felix Bailly, der sich, als er von Paulines Geschichte erfährt, von ihr trennt. Bei einer letzten Aussprache, bei der sie sich eigentlich selbst vor ihm töten wollte, erschießt sie ihn im Affekt und wird zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt.
Als Pauline mit 30 Jahren nach neun Jahren Haft entlassen wird, ist sie eine innerlich und äußerlich zerstörte Frau. Sie schließt ihr Studium ab und flieht, einen anderen Namen annehmend, nach Essaouria nach Marokko.
Dort blüht sie zu neuem Leben auf:
„Es herrscht vollkommene Übereinstimmung zwischen dem Stein und meinem Körper, zwischen dem Mittelpunkt des Hauses und meinem Herzen, zwischen seinem Schatten und meinem Innersten – genau das Gegenteil vom Gefängnis, wo es nur Trennung gibt zwischen Mauern und Körpern.“
Als sie Jean kennenlernt, erwacht auch ihre Gefühlswelt zu neuem Leben. Sie nähern sich an, er will sie heiraten. Doch Pauline weiß, sie muss ihm vorher die Wahrheit erzählen und ahnt schon seine Reaktion.
Nach dieser neuerlichen Enttäuschung sieht sie keinen Platz mehr für sich in dieser Welt, ihr altes Trauma ist wieder aufgebrochen: „Wenn ich nicht geliebt werde, bin ich wie tot. Wie. Kinder sagen das, wenn sie spielen. Man ist, ohne wirklich zu sein. Wie tot sein, heißt lebendig sein und bereits wie eine Leiche zu riechen.“
Sie setzt, während neben ihr Mozarts „Requiem“ spielt, ihrem Leben ein Ende.
Jean-Luc Seigle hat mit tiefem Verständnis und mit viel Poesie in seinem Buch versucht, dieser Frau und ihrem Schicksal so etwas wie Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sein bewegender Roman ist ein Stück großer Literatur, der in Frankreich wegen der Bekanntheit der Thematik sicher mehr für Beachtung sorgen wird als hierzulande.
Jean-Luc Seigle, Ich schreibe Ihnen im Dunkeln, C. H. Beck 2017, ISBN 978-3-406-69718-0
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2017-03-20)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.