Am Anfang ist eine Nummer, die Nummer 75. Nur eine von vielen Häftlingsnummern - in einem Lager, dessen Insaßen allein wegen Lügens drahtstranguliert werden. Aber sonst: «die arbeit ist nicht zu hart. nicht einmal, dass einen die wächter treiben, wenn man kurz verschnauft…» Und immerhin: Keine Freiheit, aber stabilisierende Routine. Sogar ein offenes Feuer im Mitttelgang der Baracke ist möglich, und man gönnt sich abends etwas Bob Dylan bei Tabak und Pökelfleisch… Es lässt sich also gerade so eben aushalten, dieses Leben als nummerierter Verbrecher unter vielen anderen anonymen Nummern - auch wenn 75 inzwischen vergessen hat, warum er Sträfling ist. Und wie er heißt. Und wie er überhaupt vorher war und lebte.
Eines Tages kriegt 75 eine Pistole mit genau vier Schuss Munition in die Finger. Man beschließt den Ausbruch. Die Flucht gelingt - aber nicht die Freiheit…
«vier schuss» von Stefan Schmitzer hat mit anderen Erzählungen und Romanen zum Lager-Flucht-Traumata die Düsternis des Szenariums, die psychologische Bedrohung solcher existenziellen (Todes-)Erfahrung, die Ich-Entgrenzung bis zum totalen Identitätsverlust gemeinsam. Auch die paranoide Optik des um seine Vergangenheit betrogenen Protagonisten, vom Geschehen in und um ihm/n zu einem geradezu kafkaesken Innenleben getrieben, weil Schuld und Sühne ohne erinnerte Biographie scheitern muss, ist so neu nicht.
Was aber dieser Debüt-Kurzprosa des 28 Jahre jungen Grazers ein besonderes Faszinosum hinzufügt, ist ihre Sprache. Schmitzer schreibt, als schieße er. Ein semantisches Staccata des gezielten Pfeilens, der wohldosierten Kugel, kalkuliert gesetzt, häufig im Ein- bis Drei-Worte-Rhythmus, mit höchster Präzision treffend, die Handlung vor sich her peitschend, als flüchte nicht nur Nummer 75, sondern flüchteten auch die Wörter: «atem, überholspur. schattenlinien. abrupt anderer tonfall von ihr. nicht genau spielerisch. als wollte sie etwas wettmachen, denkt der flüchtling, aber vielleicht ist das auch nur er. alles so ungewohnt.»
Wenn Übereinstimmung von literarischem Gegenstand mit seiner sprachlichen Form Qualitätsmerkmal ist, dann ist «vier schuss» von erlesenster Qualität. Und es ist unmöglich Zufall, dass diese Prosa von einem Lyriker stammt - nur dass sie zwar hoch artifiziell ist, aber alles Ätherische, Bildhafte, Verweisende verbannt. Und stattdessen ein Vokabular installiert, welches den Leser mit der unwiderstehlichen Kraft des Faktischen von Punkt zu Punkt schwemmt - atemlos treibende Kleinschreibung inklusive. «vier schuss» ist ein Psycho-Stenogramm von seltener Eindringlichkeit. Und dem Verlag kommt das Verdienst zu, einen wirklich interessanten neuen Prosaisten ins Licht der Buchwelt geholt zu haben. Man ist gespannt darauf, wie dieser Autor mit größeren Formen umgehen wird.
Walter Eigenmann
Stefan Schmitzer: vier schuss, Erzählung, Leykam Verlag, 96 Seiten, ISBN 370117590X
[*] Diese Rezension schrieb: Walter Eigenmann (2007-10-26)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.