Der neue Roman des 1970 in Berlin geborenen Jochen Schmidt, der dort heute noch lebt, spielt im Sommer 1989. Die DDR liegt in den letzten Zügen, und dennoch glaubt keiner, weder im Westen noch im Osten, ernsthaft daran, dass sich am Status Quo in den nächsten Jahren irgendetwas ändern wird. Immer wieder ist von vor allem jungen Menschen zu hören, die über Ungarn in den Westen „rüber machen“, aber das Leben in der DDR geht weiter wie in all den Jahren und Sommern zuvor.
Das gilt auch für den Ich-Erzähler des Romans „Schneckenmühle“, den 14-jährigen Jens, der zum letzten Mal an einem Sommerlager in Sachsen teilnehmen darf. Mehrfach war der Sohn überzeugter Christen, der von Kind auf gelernt hat, sich eine besondere innere Unabhängigkeit zum System zu bewahren, schon in der Vergangenheit Teilnehmer des Ferienlagers „Schneckenmühle“, doch in diesem Jahr scheint alles anders. Das liegt nicht nur daran, dass er wegen der Altersgrenze im nächsten Jahr nicht mehr teilnehmen darf. Durch das ganze Buch zieht sich, von Jochen Schmidt sensibel arrangiert, eine Art Endzeitstimmung, eine Atmosphäre, in der sich das, was bald bevorstehen wird, aber noch keiner für wirklich möglich hält, sich langsam auflädt.
Eine Aufsichtsperson des Lagers nach der anderen verschwindet während des mehrere Wochen dauernden Aufenthaltes, und nicht nur für Jens, sondern auch für seine Freunde ist klar: die sind rüber gemacht. Mit viel Wärme, aber mit einer großen Portion Komik und Witz erzählt Jochen Schmidt von den sich anbahnenden Veränderungen auch im Leben von Jens. Denn, mitten in der Pubertät, begegnet er in diesem Sommer einem ganz besonderen Mädchen. Peggy heißt sie, und mit ihr kann er sich zum ersten Mal vorstellen, wirklich zu tanzen.
Als seine Eltern ihn am Ende des Buches abholen (es bleibt im Ungefähren warum – wollen auch sie über Ungarn in den Westen oder wollen sie sich scheiden lassen?) da notiert Jens:
„Ich hatte das Gefühl, dass meine Eltern gar nicht wussten, wer ich war, weil sie die letzten Wochen nicht miterlebt hatten. Es hatte gar keinen Sinn, ihnen davon zu erzählen, weil es nicht möglich war, alles genau so zu beschreiben, wie es gewesen war.“
Doch für den Leser, der die stellenweise anrührenden Berichte von Jens aus dem Ferienlager „Schneckenmühle“ gelesen hat, hat sich im Verlauf der leichten und unterhaltsamen Lektüre ein interessantes Bild ergeben eines Jungen an der Schwelle zum Erwachsenen, für den nach diesem Sommer nichts mehr so sein wird wie vorher, nicht nur wegen der politischen Umbrüche.
Jochen Schmidt, Schneckenmühle, C.H. Beck 2013, ISBN 978-3-406-64698-0
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2013-08-14)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.