Ein Appell gegen die Weltreduktion auf Algorithmen
Dass der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, eine Spürnase für komplexe Trends hat, bewies er spätestens 2005 mit seinem Buch Methusalem-Komplott. Nun hat er sich eines Sujets angenommen, das ebenfalls nicht nur alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringt, sondern bis in die die Hirne der Individuen längst vorgestoßen ist und das humane Denken beeinflusst: Die Präsenz des Computers mit seiner algorithmischen Funktionsweise.
Die Phänomene, die Schirrmacher in seinem Buch beschreibt, kennt jeder, der im Arbeitsleben steht. Die Omnipräsenz der Computer, deren Funktionsweise es vermocht hat, sich von einem nützlichen Instrument zu einer dominanten Befehlsgewalt zu etablieren. Systematisch durchpflügt Schirrmacher die mystischen Felder, die mit der Digitalisierung aufgetan wurden. Da ist die Rede von der Schimäre des Multitasking, d.h. der angeblichen Fähigkeit der Computer, verschiedene Aufgaben gleichzeitig zu bearbeiten, was prompt als Forderung an die Menschen weitergeleitet wurde. Nicht nur, dass letztere daran scheitern, weil sie selbst sequenziell disponiert sind und den eigentlichen Vorteil genießen oder zumindest genossen, zu priorisieren und nach einer eigenen Bewertung die Reihenfolge von Aufgaben zu bestimmen. Sondern auch die Analogisierung, so absurd es klingt, des menschlichen Denkens mit der rein quantitativ-mathematischen Vorgehensweise der Computer.
Schirrmacher zeigt die logischen Kaskaden der Computerprogramme und die Reduktion aller Erscheinungen auf Algorithmen, wo die quantitative Charakterisierung von Phänomenen zu einer eigendynamischen Qualität wächst, die uns vormacht, als seien humane Denkprozesse hinter den myriadenhaften Rechenoperationen vorhanden. Dass die Anwender vieles von dem, was dort hinter den sichtbaren Kulissen passiert, selbst nicht mehr verstehen, führt zu eigendynamischen Entwicklungen mit teilweise katastrophalen Folgen, wie die Weltfinanzkrise gerade aufgrund ihrer irreführenden Rechenprogramme gezeigt hat.
Die weitaus fatalere Wirkung zeigt sich jedoch in der Konditionierung der Menschen auf die reduktionistischen Vorgehensweisen der Rechenprogramme, in denen eine Wertbezogenheit, die sich aus einer Sozialisation, in der Moral und Ethik eine Rolle spielt, nicht mehr stattfindet. Stattdessen verkommen die humanen Wesen zu Anhängseln, die ihre semantischen Befähigungen, ihre Konzentration und ihre Entscheidungssouveränität einbüßen.
Auf der Suche nach Alternativen stößt der Autor auf das bankrotte Bildungssystem, das selbst die gröbsten Impulse der Fehlentwicklung unreflektiert reproduziert hat. Aber gerade in einer reformierten, neu gedachten Bildung sieht er den Ausweg: Die Abkehr von der exklusiven Wissensvermittlung und die Fokussierung auf selbst bestimmtes, kritisches und strukturiertes Denken. Ein Appell, den alle unterstützen sollten, die es noch können.
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2009-12-31)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.