Schon zu Beginn des neuen Romans von Hansjörg Schertenlieb wird in einem kurzen prologartigen Text ohne Überschrift das Ende verraten. Da findet ein Mann die 73- jährige Roberta Kienesberger zusammen mit ihrem erschossenen Hund im Arm tot im Schnee an den Stamm einer Birke gelehnt. Und einige Zeilen später wird beschrieben, wie die 15- jährige, sehr schwer verletzte Ayfer Boskül von einer Frau gefunden wird, die den Notruf alarmiert.
Roberta Kienesberger ist tot, und ob das türkische Mädchen mit dem Leben davonkommt, bleibt unklar. Doch das hindert einen als Leser überhaupt nicht, das Buch weiter zu lesen. Denn man möchte wissen, was diese beiden so unterschiedlichen Frauen miteinander zu tun haben, und vor allen Dingen, wie die Geschichte geht, die zu diesem Ende geführt hat.
Und Hansjörg Schertenleib erzählt sie mit großer poetischer Kraft und einem feinen Gespür für die beiden Protagonisten und ihrem Schicksal. Die Titel der drei Hauptteile deuten an, dass es bei beiden Frauen um eine Reise geht:
* In der Fremde
* Auf dem Weg
* Zu Hause
Beide Frauen brechen ungefähr zur gleichen Zeit an unterschiedlichen Orten aus ihrem bisherigen Leben aus. Ein Leben, das sie beide als unfrei und gefangen erlebt haben. Roberta Kienesberger flieht aus einem Schweizer Altenheim, befreit ihren geliebten Hund, den man ihr weggenommen hatte, aus einem Tierheim, und macht sich mit ihm zusammen auf den langen Weg nach Österreich, ihrer alten Heimat, die sie gerne noch einmal sehen möchte.
Ayfer Bosküls Flucht ist nicht weniger abenteuerlich. Von ihrem Vater zu einem Onkel in die Türkei verschleppt, wo er ihre „Ehre“ sicher glaubt, schafft sie es, von dort zu fliehen und sich auf den Weg zurück zu den Eltern und ihrer Familie zu machen. Die Frauen könnten nicht unterschiedlicher sein. Roberta ist alt und sehnt sich nach ihrer Vergangenheit, Ayfer ist jung und hat Angst vor einer Zukunft, die der Vater und auch der Bruder für sie erdacht haben.
In wechselnden Perspektiven erzählt Schertenleib von den Fluchtversuchen und -erlebnissen der beiden Frauen, die sich, so viel sei verraten, auch einmal kurz überschneiden. Roberta will endlich einmal nicht ihre Träume den Gegebenheiten anpassen und kehrt nach Hause in ihr Dorf zurück, und Ayfer traut sich, ihren Traum von einem selbständigen und freien Leben als junge Frau in die Tat umzusetzen. Beide zahlen dafür einen hohen Preis, doch schon bald versteht der Leser die eindringliche und dennoch feine Botschaft: es lohnt sich, aus der lange erduldeten Freiheit aufzubrechen, Schon allein der Versuch bringt eine Freiheit, die niemals mehr einem genommen werden kann.
Schertenleib liebt die kleinen Gesten, die Nebensächlichkeiten, die Zwischentöne und die fast nicht spürbaren Unterschiede bei Gefühlen und inneren Monologen.
Es ist ihm mit „Wald aus Glas“ ein wunderbarer poetischer Roman gelungen über ungelebte Träume, die Sehnsucht nach dem Glück und dem großen starken Wunsch vieler Frauen nach Selbstbestimmung. Doch auch Männer können jenen Satz, den er Ayfer in den Mund legt, für sich und in sich arbeiten lassen, denn auch sie haben eine lange Geschichte ungelebten Lebens:
„Warum träumen die meisten Menschen von Dingen, die sie niemals tun würden? Warum träumt man von Dingen, vor denen man sich, bei Lichte betrachtet, fürchtet?“
Hansjörg Schertenleib, Wald aus Glas, Aufbau 2012, ISBN 978-3-351-03503-7
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2013-05-30)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.