„Wann würde der rechte Zeitpunkt gekommen sein, wann verlöre man die Freude am Leben, wann gäbe man die Hoffnung auf?“ Dass Altern aber auch Spaß machen könne, weil man auch sehr viel Mut dafür aufbringen müsse, habe auch schon Joachim Fuchsberger bemerkt und „der fröhliche Pensionist“ (so ein Kapitel von Scheers Buch) wäre doch eine wunderbare Begleiterscheinung zum traurigen Prozess des Sterbens, denn Überleben darf nicht nur wer nützlich ist und anderen nicht im Wege steht – so Scheers ironische Überleitung – sondern auch derjenige, der Freude am (Über-)Leben hat. Es geht um die Sicherung des Genoms, des Überlebens der Art, schreibt er, wenn er die Fabel vom Vogelvater erzählt, der seine drei Kleinen frägt, ob sie ihn auch einmal retten würden. Denn jeder kennt die Antwort: „Nein. Aber meine Kinder werde ich ebenso retten wie du mich.“ Aber es gibt ohnehin nichts Schöneres, als „unwichtig“ zu sein! Und es geht auch ohne Sie! Und genau darin sieht Scheer die Freiheit des Alter(n)s.
Parzival ohne Herzeloide
Jahrelang hatte Scheer auch seine Mutter beim Sterben begleitet, was der Autor rührend beschreibt, denn die Konfrontation mit dem Sterben und dem Tod Angehöriger ist wohl besonders schwierig, gerade dann, wenn sie mit dem Verlust der Erinnerung kämpfen, wie dies bei Demenzkranken oft der Fall ist. Aber auch vor dem Helfersyndrom warnt Scheer, der Mediziner: „Die Gleichzeitigkeit von Hoch- und Demut ist mir vertraut. Ich bücke mich, um mich zu erhöhen. Meine Schuld wird dadurch nicht kleiner, ich bin nicht Gott und sein Ruf ist nicht an mich ergangen“, schreibt Scheer und spricht damit nicht nur Ärzte, sondern auch Helfer an. Und doch denkt man oft, nicht genug zu tun. „Wenn ich gut zu mir bin, dann vergleiche ich mich nicht mit meinen inneren Ansprüchen, sondern mit Menschen, die weniger tun.“ In der Brasserie Mollard (115, rue Saint-Lazare) fühlt er sich an seine Kindheit im Gellert-Bad in Budapest erinnert und denkt an die Mutter-Sohn-Partnerschaft zwischen Parzival und Herzeloide und macht sich Vorwürfe, dass er mit seiner Mutter nie im Hotel des Maronniers war und seine Frau im Café de la Paix die Augen verdreht, als er es ihr erzählt.
Geruch der Erinnerung
Als er Jahre später an einer Konditorei vorbei geht riecht er es wieder: „Nicht ich war’s der roch, sondern ich war nur der, der’s roch.“ Unsere Kindheit können wir nur bewältigen, wenn wir unseren Eltern verzeihen, resümiert er. Aber auch umgekehrt wird das wohl wichtig sein. „Denn nicht nur in Paris lebt sie mit mir, sondern in allen Häusern, die ich bewohne, selbst wenn sie sie nicht mehr kennengelernt hat.“ Überall wo ich hinsehe, sehe ich mich selbst, sehe ich meine Erinnerungen und am Ende steht der Satz von Carla Muschio: die einzige die alles vergibt und vergisst, das, ist die Mama. Es geht in Scheers Bekenntissen aber nicht nur um die Mutter-Sohn-Beziehung und die damit verbundenen Probleme für die Zweierbeziehung, sondern auch um lebensverlängernde Maßnahmen: Wie eine Studie kürzlich herausgefunden hat, lebt man durch regelmäßige Bewegung durchschnittlich zwei Jahre länger, verbraucht aber für diesen Gewinn vier Jahre an Zeit. Es ist also alles relativ, denn diese Art der Lebensverlängerung ist keine wirkliche.
Der in Tel Aviv geborene und in Wien aufgewachsene Universitätsprofessor der Medizin lebt heute in Graz wo er durch die Zusammenarbeit mit seiner zweiten Frau auch frühkindliche Essstörungen heilen konnte und dadurch auch internationale Bekanntheit erlangte. Sein Buch „Lust aufs Alter“ macht viel Mut, das eigene Altern bewusst zu erleben.
Peter Scheer
Lust aufs Alter
Unkonventionelle Gedanken über das Älterwerden
Falter Verlag, 216 Seiten, Paperback
ISBN: 9783854395805
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2017-02-14)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.