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Rezensionen


 
Judith Schalansky - Der Hals der Giraffe
Buchinformation
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Schalansky, Judith:
Der Hals der Giraffe

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(Bücher frei Haus)

Was macht dieses Buch zur didaktisch geeigneten Gymnasiumslektüre?
Es ist nicht kitschig, es ist nicht unernst. Es geht um eine Gymnasiallehrerin, also geht es auch um Schüler. Es geht um das dahinserbelnde Vorpommern, also ums Verarbeiten der deutschen Wiedervereinigung. Es geht um die manchmal sehr verschiedenen Arten in künstlerischen und naturwissenschaftlichen Fächern, die Welt wahrzunehmen, zu fühlen und zu definieren. Es geht um eine einsam Leidende, in die man sich als Leser einfühlen kann. Es kommt da auch etwas Sexualität vor. Das interessiert die jungen Leute dann auch, aber es kommt nicht so viel vor, dass der Deutschlehrer groß drüber diskutieren müsste. Und, „Der Hals der Giraffe“ ist angefüllt mit literarischer Stilistik. Auch, was sich ganz gut trifft, ist es kein Buch, das irgendwelche Jugendlichen freiwillig sich aussuchen und zum Lesen hernehmen würden, das sie vielleicht jetzt schon kennen könnten. Da steckt genug drin, was ein älterer, erfahrener Mensch den jungen Menschen erläutern könnte, und doch ist es dann nicht verstörend, nicht enigmatisch. Nun ja, von weltweiter Relevanz ist das Buch zwar nicht, vielmehr brav deutsch, ordentlich, aufrecht, sorgfältig, ernsthaft.

Unzufrieden mit der Lektürewahl könnte der Kollege aus dem Fach Biologie werden, falls er mitkriegt, dass die Heldin des Buches eine ältliche Biologielehrerin ist und dass sie eifersüchtig wird auf die Sympathien der Schüler, die eher den Fantasie-Fächern wie Kunsterziehung als den trockenen Naturwissenschaften zufallen. Und den entsprechenden Lehreren angeblich gleich mit.

Ihr Leben ist traurig und schwer. Hinter allem steht aber eines: Keiner hat sie lieb. Denn sie ist ja schon länger am Leben, ist enttäuscht worden, hat jetzt keine Illusionen mehr, hält auf beständige Leistung und Disziplin. Man darf sagen: verschrumpelte, alte Lehrerinnenhexe.

Wir damals, ich bin auch schon älter, konnten nicht Judith Schalanskys „Der Hals der Giraffe“ im Deutschunterricht durchnehmen. Bei uns damals war das dann „Homo faber“ von Max Frisch. Beides sind Bücher, in denen ein im Grunde von sämtlichen Lesern schon sehr früh als „Bescheuerter“, seelisch Verkrüppelter erkannter mit typischer Erzählweise und Perspektive Einblicke in ein Leben vermittelt, das nur er selbst für „vernünftig“ hält, während alle anderen seine seelische Verarmung nicht übersehen können. Bei Max Frisch ein Ich-Roman, tagebuchartige Notizen, nach einer privaten Katastrophe zur persönlichen Rechtfertigung des Protagonisten aufgesetzt. Judith Schalansky zieht es als „inneren Monolog“ aus der dritten Person Singular auf. Hier jetzt kein Zitat, aber in etwa so kann es sich lesen: „Die Wege musste sie noch harken, das vermooste schon alles, Sukzession, die Natur holt sich zurück, was wegkultiviert wurde.“ Immer in diesem Telegrammstil, diese Sätze mit wenigen Nebensätzen, mit den eingesparten Verben. Angeblich denken wir ja alle so, innerlich, bei uns selber, wenn wir alt gewordene Naturwissenschaftler von der Ostsee sind. Sowieso denkt diese Frau dermaßen penetrant an die Gegenstände und Gesetze ihrer wissenschaftlichen Disziplin, wie so schnell kein zweiter Lehrer, der eine Weile im praktischen Unterrichtsalltag drin ist. Wenn Judith Schalansky, von Haus aus bildende Künstlerin, sich irgendwas wacker verdient hat, so das Prädikat, alle Hintergründe aus der Biologie gründlichst recherchiert zu haben.

Bei Frisch war’s so: Uninteressant war’s nun nicht, wie diese Super Constellation auf dem Flug von New York nach Mittelamerika in der mexikanischen Wüste notlanden musste. Oder dieser Erhängte im dampfenden Urwald. Oder dann diese Atlantiküberfahrt, wo ein älterer, steifer Herr Ingenieur sich unversehens in ein ganz junges Mädel mit dem existenzialistischen Rollkragenpulli wie die süße Audrey Hepburn verliebt. Es war irgendwie neu und spannend damals, für uns Siebzehnjährige. Mit diesem verknöcherten Alten hatte man irgendwie Mitleid in seiner schneidigen Rechthaberei und hätte ihm ein wenig Glück mit dem Mädchen schon gegönnt. Hier, bei Judith Schalansky ist das aber so: Erst setzt sie die gesamte erste Hälfte des Romans ein, uns die Verbiesterung dieser einen Frau vorzuerzählen. Und nur ganz allmählich, ganz zart nebenbei, lässt sie schon auch mal einfließen, dass man mal Mitleid mit so einer Person haben könnte. Aber es passiert halt nichts weiter. Kein Kino. Kein New York, keine Super Constellation, keine Notlandung, keine Juden, keine Audrey, keine Schlangen.

Sondern, ihr Mann, der hat so seine Straußenfarm. Und die Tochter ist in Amerika und mit der Zeit kriegt man mit, die ist eigentlich abgehauen vor der Mutter und kommt nicht mehr zurück. Und dann ist da noch die Kunstlehrerin, die ist gewöhnlich und aufdringlich und mischt sich ein. Und der Schulleiter ist ein Wessi und hat seinen Posten sicher und stellt jetzt aus irgendwelchen Gründen ihre Stellung, die der Biolehrerin, in Frage. Und zwischendurch taucht mal ganz hinten am Rand des Bildes so eine irreale Möglichkeit zur Erlösung und Erweckung durch die Liebe auf. Das ist ein kleines Mädchen, eine Schülerin, wo jetzt nicht ganz klar ist, ob das ein wenig lesbisch ist oder doch eher mütterlich-nostalgisch. Jedenfalls merkt der Doofste, dass es deswegen nicht groß was geben wird. Und ansonsten ist es aber nur immer öde in diesem Buch. Die von der Parallelklasse, bei Doktor Werner, die haben ja einen Roman von Paulo Coelho gelesen und der war richtig voll gut.

Zitat:

„Und finden Sie Ihre Blutgruppe heraus. Und die Ihrer Eltern. Samt Rhesusfaktor.“
Das Pausenklingeln.
„Sie alle, zur nächsten Stunde.“
Mal sehen, ob wieder ein Kind dabei war, das danach keinen Vater mehr hatte. Sie war auf der sicheren Seite. Stand alles im Lehrplan. Und war lebensnäher, als die Textaufgabe mit den vertauschten Babys auf der Entbindungsstation. Außerdem wurde doch immer Praxisnähe gefordert. Es gab nun mal bestimmte zwingende Eltern-Kind-Zuordnungen. Die Wahrheit war zumutbar. Auch Kindern. Gerade Kindern. So früh es ging.


[*] Diese Rezension schrieb: Klaus Mattes (2016-09-01)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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