Andrea Sawatzki gehört seit vielen Jahren zu den besten und bekanntesten deutschen Film- und Fernsehschauspielerinnen und hat sich durch die Rolle der Tatortkommissarin Charlotte Sänger auch bei Krimifreunden einen Namen gemacht. Seit ihren durchweg gelungenen Einspielungen zahlreicher Hörbucher ist sie auch auf dem Buchmarkt präsent, auf dem sie im Frühjahr 2013 mit ihrem ersten Roman debütierte.
„Ein allzu braves Mädchen“ ist ein Buch, an das man nicht mit der Erwartung nach einem spannenden Krimi oder einem Psychothriller herangehen sollte, Dann ist die Enttäuschung des Lesers vorprogrammiert. Sawatzkis Buch ist das bewegende und fachlich hervorragend recherchierte Psychogramm einer Frau, die nicht immer Opfer bleiben konnte. Und es ist das überzeugende Porträt einer mitfühlenden und engagierten Psychiaterin, die mit viel Geduld und weiblichem Einfühlungsvermögen langsam die Frau zum Reden bringt über ihr Leben und ihr Schicksal. Und dann werden langsam und mit durchaus subtil aufrechterhaltener Spannung Zusammenhänge klar, die lange Zeit im Dunkeln waren.
Ich bedaure es sehr, dass Andrea Sawatzki mit ihrem zweiten Buch, das nun nach einem halben Jahr schon erscheint, nicht in diesem Genre geblieben ist. Stattdessen hat sie eine Familie erfunden und die Ich-Erzählerin Gundula, die sich selbst als „Nur-Hausfrau“ bezeichnet, Mutter von drei Kindern und verzweifelt bemüht , ihre ziemlich chaotische Familie am Laufen zu halten.
Seit vielen Jahren pflegt sie die Tradition, dass am Heiligen Abend ihre ganze Familie in ihr Haus kommt, um dort gemeinsam Weihnachten zu feiern. Das mag noch schön gewesen sein, als die Kinder klein waren und Gundulas Vater noch nicht dement. Nun aber bricht schon vor der Ankunft der gesamten Mischpoke das nackte Chaos aus. Die Ehe von Gundula und Gerald kriselt, die Tochter Ricarda pubertiert und nichts scheint zu funktionieren.
Als dann kurz hintereinander eine wirklich bunte und nicht weniger chaotische Mischung aus Eltern, Schwiegereltern und Geschwistern samt Ehepartnern eintrifft und in die geräumten Kinderzimmer gesteckt wird, sind die in jahrelangem Familienstress geschulten Managementqualitäten von Gundula gefordert.
Sieht man zu Beginn noch schwarz für die Zukunft dieser Ehe und dieser Familie, wenn sich eine Katastrophe an die andere reiht und die Kommunikation untereinander überhaupt nicht mehr stimmt, schafft es die bei aller Unperfektheit doch sympathische Protagonistin des Buches mit ihrer Selbstironie und ihrem charmanten Mutterwitz die Lage zu stabilisieren und ihre Ehe und Familie wieder in zukunftsfähiges Fahrwasser zu bringen.
Insofern darf man auf die am Ende des Buches im Epilog angedeutete Fortsetzung der Geschichte von Gundula und ihrer Familie gespannt sein. „Tief durchatmen, die Familie kommt“ ist ein unkomplizierter Lesespaß ohne literarische Ansprüche wie Sawatzkis Erstling. Da sie offenbar beides kann, darf man von dieser beeindruckenden Frau vielleicht irgendwann einen guten großen Roman erwarten?
Andrea Sawatzki, Tief durchatmen, die Familie kommt, Piper 2013, ISBN 978-3-492-05636-6
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2013-10-24)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.