Der Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen und ihr zu widerstehen, hieße verstehen, schreibt Hannah Arendt in dem von Roberto Saviano seinem Text voran gestellten Zitat. Einen Einblick in die Wirklichkeit des Mezzogiorno oder zumindest Neapels und Kampaniens gibt dieses Buch allemal, da es von einem Augenzeugen geschrieben wurde, der zuerst als Journalist gearbeitet hatte und seit Erscheinen seines Werkes nun selbst im Untergrund leben muss.
„Unser Handeln besitzt eine Elastizität, die unseren ethischen Grundsätzen fremd ist“, schreibt Saviano, grundsätzlich sei eine illegale Tat nicht mehr oder weniger überlegt als eine legale, sie könne genauso al improviso geschehen, wie eben nicht. Man müsse schon seine ganze Leidenschaft aufbieten, um sich mitten in diesem Unrat aus Arbeitslosigkeit einerseits und Kriminalität andererseits noch wohl fühlen zu können, schreibt Saviano über den Süden Italiens und damit meint er alles von Neapel abwärts: Calabria Saudita, wie Kalabrien scherzhaft genannt wird, Calafrica oder Sahara Consiliana statt Sala Consiliana, alles „Dritte Welt“, ein unerschöpfliches Reservoir an billigen Arbeitskräften, sowohl für die legale als auch illegale Industrie des Südens. Der Klassenkampf sei hier „weich wie ein Milchbrötchen“, die Löhne lägen zwischen 500 und 900 Euro, aber das interessante an diesen vielen Familien-Kleinunternehmen sei eigentlich die Verwirklichung der „fordistischen horizontalen Gesellschaft“ in der Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam ihre Mahlzeiten einnehmen und ihre Kinder gemeinsam auf demselben Spielplatz spielen.
Die semiindustriellen Produktionsstätten - oder sollte man sagen Manufakturen – würden einen Großteil des Wohlstands von Italien erwirtschaften, wie Saviano schreibt und das obwohl gar keine Steuern dafür bezahlt werden. „(…) im Herzen Europas. Da, wo der größte Teil der Wirtschaftsleistung des Landes entsteht“, schreibt er an einer Stelle oder noch deutlicher: „In dieser Gegend entscheidet man nicht über Lebensentwürfe, Arbeit zu haben, erscheint als Privileg, das man, einmal erreicht, festhält, als hätte man einen Glückstreffer gemacht und sei vom Schicksal begünstigt, auch wenn das bedeutet, dreizehn Stunden täglich außer Haus zu sein, nur den halben Sonntag frei zu haben und nur tausend Euro im Monat zu verdienen, die kaum zum Abzahlen der Hypothek reichen.“ Nicht ganz ohne Pathos schreibt Saviano gerade über die Region Kampanien: „Viele Korrespondenten glauben, hier das Ghetto Europas, das absolute Elend vor sich zu haben. Wenn sie nicht gleich wieder davonrennen würden, müssten sie sich darüber klar werden, dass hier die Stützpfeiler der Wirtschaft, die verborgenen Goldminen und die dunklen Abgründe sind, aus denen das pulsierende Herz der Ökonomie seine Energie bezieht.“
Roberto Saviano streift aber natürlich auch noch andere unliebsame Aspekte Italiens. So beschreibt er die Rolle der Frauen in der Camorra mit folgenden Worten: „Die Frauen sind in höherem Maße befähigt, das Verbrechen nur als zeitlich und räumlich begrenzt zu betrachten, als Urteil anderer, als eine Stufe, die man berührt und dann hinter sich lässt.“ Eine „Guappa“, eine Camorristin aus Neapel, müsse die Fähigkeiten einer Seiltänzerin entwickeln, um auf den Basaltquadern der Straßen Neapels herumzustolzieren, die schon immer jeden Damenschuh ruiniert hätten und dieser Seiltanz bezieht sich durchaus auch auf die vermeintliche (Il-)Legalität ihrer Arbeit. Die rituelle Beweinung und Schmerzensszenen, die man aus dem Süden kennt, seien nicht fingiert, schreibt Saviano, sie bewiesen vielmehr, dass Frauen im Süden immer noch in einer kulturellen Umgebung leben, die ihnen nur diese symbolischen Rituale biete, um ihren Schmerz der gesamten Gemeinschaft mitzuteilen. „Obwohl er wirklich ist, nimmt dieser frenetische Schmerz nach außen die Züge einer Inszenierung an.“
Ein anderes Kapitel führt den Leser in die Abgründe des Reiches der Kalaschnikow und ihres Erfinders, Michail Timofejewitsch. Aber er erfährt auch Persönliches über den Vater des Autors, der als Notarzt Schwierigkeiten mit der Camorra bekam, weil er einem „Bestraften“ das Leben retten wollte. Man müsse Angeschossene auf Neapels Straßen nämlich liegen lassen, damit sie auch wirklich sterben. Savianos Vater wurde für die Einhaltung seines Eides zusammengeschlagen, aber dennoch musste auch er tun, was er tun musste, auch wenn er dafür schwer bezahlte. Die Kalaschnikow sei deswegen zur Ikone der Clans geworden, weil sie wie keine andere Waffe dafür stünde, was der Imperativ im Zeitalter des Marktes geböte: „Tu, was du tun musst, um erfolgreich zu sein, der Rest geht dich nichts an.“ Der kategorische Imperativ von Savianos Vater wird damit außer Kraft gesetzt, es herrscht allein das Gesetz des Marktes, der Stärkere setzt sich durch. Saviano recherchiert in diesem Kalaschnikow-Kapitel auch eine Art K-Index im Vergleich zum Big Mac Index: je billiger eine Kalaschnikow in einem Land sei, desto „zerrütteter das soziale Gefüge“. Der Preis im Jemen z.B.: sechs Dollar, den Preis in Italien bleibt er allerdings schuldig. Italien gebe 27 Milliarden Dollar für Waffen aus, mehr als Russland und doppelt so viel wie Israel, schreibt Saviano. Der Staat und die Clans würden drei Viertel der in der halben Welt zirkulierenden Waffen kontrollieren. Arkan, der bekannte serbische Nationalist, habe seine Kalaschnikows übrigens auch von der Camorra bezogen und mit Geld bezahlt, das zuvor auf einer österreichischen Bank gelegen sei, schreibt Saviano. Die Verflechtungen des Verbrechens sind ebenso global wie die legale Wirtschaft, das dürfte für niemanden etwas Neues sein.
In der Verwebung und Interdependenz von illegaler und legaler Wirtschaft sieht Saviano denn auch das Hauptproblem eines effizienten Kampfes gegen die Mafia. Das Operationsgebiet der Camorra, der Mafia in Kampanien, liege an der Schnittstelle zwischen legaler und illegaler Wirtschaft, „in diesem Sinn dient jede Verhaftung, jeder Mammutprozess eher dazu, einen neuen Boss zu inthronisieren bzw. eine Ära der Macht zu beenden, als das System als Ganzes zu zerstören.“ Kaum sei ein Boss beseitigt, stehen schon andere bereit, ihm seine Position streitig zu machen und sich auf seine Schultern zu setzen. Das sei außerdem gut für das Geschäft, denn wenn ein Boss zu lange an der Macht wäre, würde er die Preise in die Höhe treiben, die Märkte monopolisieren und damit lähmen. Ein Boss, der zu lange an der Macht ist, ist kein Nutzbringer mehr, da er nur mehr bestehende Märkte ausbaut, aber keine neuen mehr erobert. Die Dynamik der Macht erfordert eben einen schnellen und permanenten Wechsel an der Spitze, das wissen die Bosse selbst wohl allzu gut. Nicht zuletzt deswegen leben sie wohl alle nach der Devise „nach mir die Sintflut“: sie wollen so schnell wie möglich nach oben, da sie nur ganz wenig Zeit dafür haben, an der Spitze zu bleiben. So wird die Verheißung des Rock`n´Roll Zeitalters „Live hard, die young“ gerade für die Capizona oder die Capi selbst zur Maxime ihrer Lebenserwartung.
Das Kapitel „Zement“ („Erdöl des Südens“) und „Feuerland“, über den Giftmüllexport, gehören wohl zu den beiden stärksten in Savianos Buch, nicht nur, weil er hier sein ganz eigenes politisches Credo und Vorbild verrät. Pier Paolo Pasolinis „Ich weiß“ wird zu Savianos Glaubensbekenntnis, mit dem er die Machtverhältnisse im Süden oder in ganz Italien an die Wand schreiben möchte, um die „Architektur der Gewalt“ sichtbar zu machen. Immer wieder schreibt Roberto Saviano auch von der Macht des Wortes, dem er sich verpflichtet fühlt und von der Verpflichtung zur Wahrheit: werde diese, die Wahrheit, ausgesprochen, mache sie keine Gefangenen, reiße alles mit sich fort und mache aus allem einen Beweis. Am Ende resümiert denn auch Roberto Saviano: „Ich kenne die wahre politische Verfassung meiner Zeit: sie ist der unternehmerische Reichtum. Jeder Pfeiler eines jeden Hauses wurde mit dem Blut von Menschen gebaut. Ich weiß, und ich habe Beweise. Ich mache keine Gefangenen.“
Roberto Saviano
Gomorrha
Reise ins Reich der Camorra
Übersetzung aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuß