Dass über lange historische Zeiträume bestimmte Phänomene der Entwicklung aus einem falschen, irritierenden Blickwinkel gesehen werden können, ist nicht unbedingt eine neue Erkenntnis. Bei einer Frage wie dem globalen Trend der Urbanisierung allerdings kann man neben dem eigentlichen Thema auch noch Rückschlüsse auf die Denkweise derer ziehen, die das Phänomen ideologisch und negativ gesehen haben. Die Arbeit des kanadischen Soziologen Doug Saunders mit dem Titel Arrival City hat zumindest das Zeug, einen Denkwechsel hinsichtlich der globalen Urbanisierung anzustoßen.
Seinen sich auf über fünfhundert Seiten erstreckenden Ausführungen stellt Saunders die schlichte Erkenntnis voran, dass Urbanisierung historisch immer einhergeht mit Zivilisation und dass der Weg vom Land in die Stadt ebenso immer in der Tendenz eine Verbesserung der Lebensverhältnisse derer mit sich bringt, die sich zu diesem Schritt entschlossen haben. Das Leben in schnell anschwellenden Megastädten ist gekennzeichnet durch informelle, strukturarme, aber hoch effiziente und produktive Netzwerke, die den Impuls zu Innovation in sich tragen. Das Provisorium wird somit zum Vorhof der Revolutionierung von Gesellschaften.
Dadurch, dass Saunders sich etliche Arrival Citys, und zwar kontinental wie auch historisch anschaut und betroffene Zeitzeugen erzählen lässt, bevor er zum analytischen Teil ansetzt, macht er das Kompendium lesbar und spannend. Und ihm gelingt es sehr plausibel nachzuweisen, dass sich in den informellen Gürteln der Megastädte Ordnung und Chaos gegenüberstehen. Die allzu rigiden Versuche, das Informelle und Provisorische zu illegalisieren und die Planierraupen sprechen zu lassen, führt in der Regel zum Lynchen der kreativen Potenziale. Die Antwort mit reinen städtebaulichen Maßnahmen entreißt den Kreativen die notwendigen Räume, modifiziert die Zonen der Chance zu Silos der Tatenlosigkeit und Sozialverwaltung und stimuliert sie dadurch erst recht zu Problemzonen.
Das lange und bis heute vor allem gepflegte Diktum, man müsse durch Strategien, die die Lebensbedingungen auf dem Land verbessern, dem Drang in die Städte den Boden entziehen, entpuppt sich als ein ideologisches Dogma, das gegen die Abstimmung der Weltbevölkerung mit den Füßen steht. Hoch interessant ist der Vergleich des Umgangs mit den Arrival Citys in den USA, Europa, Lateinamerika, Afrika und Asien, der deutlich macht, warum Asien der aufstrebende Erdteil ist und der klassische Westen zumindest zu den stagnierenden Kontinenten gehört.
Bis hin zu den ersten erfolgreichen Biographien aus den Arrival Citys, z.B. dem ehemaligen brasilianischen „Lula“ da Silva und dem Ministerpräsidenten der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, handelt es sich um ein ungemein spannendes Buch, das vieles in Frage stellt, was im Westen hinsichtlich der globalen Urbanisierung als gesetzt galt.
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2012-01-12)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.