„O Deutschland, bleiche Mutter!/Wie sitzest du besudelt/Unter den Völkern. (..) O Deutschland, bleiche Mutter!/Wie haben deine Söhne dich zugerichtet“ heißt es in dem von der Regisseurin ihrem Film vorangestellten Gedicht von Bertolt Brecht „Deutschland“. Der Text wird von Brechts Tochter Hanne Hiob gesprochen, aber leider auf eine ziemlich fürchterliche Art und Weise betont. Die Stimme, die dann die Geschichte des Filmes erzählt, gehört der Regisseurin, Helma Sanders-Brahms: Sie ist die kleine Anna, die das Leben ihrer Mutter erzählt. „Mögen andere von ihrer Schande sprechen,/ich spreche von der meinen“, dieser Satz steht auch in Brechts Gedicht und lässt das Narrativ der Tochter über ihre Mutter Lene und ihren Vater Hans beginnen.
Partei oder Krieg
„Ich kann mich an nichts mehr erinnern in der Zeit vor meinem Leben. An dem, was geschah, bevor ich geboren war, trifft mich keine Schuld. Da gab es mich nicht. Ich fing an, als mein Vater meine Mutter zum ersten Mal sah“, so Anna und sie beginnt natürlich schon vor ihrer Geburt ihre Geschichte zu erzählen, als ihr Vater Hans ihre Mutter Lene am Flussufer spazieren sah und sich unsterblich in sie verliebte, so, dass er sich für sein Leben nichts Anderes wünschte, als Lene zu heiraten. Und tatsächlich kriegen sich die beiden, bei einer Tanzveranstaltung im Sommer 1939 lernen sich die beiden kennen und lieben und aus dieser Liebe entsteht die kleine Anna, die uns den ganzen Film über als Erzählerin begleiten wird. Denn bald werden die beiden Liebenden getrennt und Hans muss als Soldat in den Krieg, wohl weil er als einer der wenigen nicht zur Partei ging, denn die schickte man als erstes an die Front, die nicht zur Partei gehörten.
Das Recht des Siegers
Eine lange Kameraeinstellung lang wird die Flucht von Berlin aufs Land erzählt, in der Lene die kleine Anna auf den Schultern durch eine zerstörte deutsche Landschaft trägt und das Grimm‘sche Märchen vom „Räuberbräutigam“ erzählt. Auf dieser unfreiwilligen Reise wird Anna dann von zwei betrunkenen Amerikanern in einer Häuserruine vergewaltigt. „Das ist das Recht des Siegers“, sagt sie zu ihrer Tochter Anna, die alles mitansehen musste. Der Krieg ist dann bald zu Ende und Hans kommt lebend wieder zurück von der Front. Doch die anfängliche Liebe ist aus seinem Leben gewichen, obwohl sie eigentlich das einzige war, das ihn an der Front am Leben erhielt, wie man sieht, wenn er in seinen schlimmsten Stunden ein Foto von Anna aus seiner Uniform zieht und es zärtlich mit Blicken streichelt. Der Krieg auf den Schlachtfeldern ist zwar vorbei, aber der Krieg wird dann in die Beziehungen zwischen Mann und Frau hineingetragen. Hans ist verroht und eifersüchtig, unterstellt ihr immer wieder, sie habe einen anderen, nur weil sie nicht mit ihm schläft. Aber sie würde es ja gerne, nur kann sie es nicht.
Dann nimmt der Film eine plötzlich radikale Wende. Die zuvor so starke Lene erkrankt, bekommt eine Gesichtslähmung, und Hans bringt sie zum Arzt, der ihre alle Zähne zieht. Diese Horrorszene ist sogar noch schlimmer als beim „Marathonmann“, zarte Gemüter seien hier vorgewarnt. Erstens nämlich, weil man nicht ganz glauben macht, dass es ihrer Krankheit wirkliche Abhilfe verschaffen wird und zweitens, weil man als Zuseher weiß, dass der symbolische Akt des Zähne Ziehens auch dafür steht, dass man die symbolische Macht (oder besser: Autonomie) wieder abgeben muss. Die Frauen kamen während des Kriegs nämlich eigentlich ganz gut ohne ihre Männer zurecht, vor allen Dingen hätten sie wohl auf solche Männer, wie die, die aus dem Krieg zurückkehrten, verzichten können. Als sich Lene schließlich das Leben nehmen will und den Gashahn im Badezimmer aufdreht steht die kleine Anna vor der verschlossenen Tür und bettelt: „Komm raus. Bitte, komm doch raus. Ich bin so allein.“ Dann sagt die Erzählerstimme: „Es dauert sehr lange, bis Lene die Tür aufmachte, und manchmal denke ich, sie ist immer noch dahinter, und ich bin immer noch davor, und sie kommt nie mehr heraus zu mir, und ich muss erwachsen sein und allein. Aber sie ist immer noch da. Lene ist immer noch da.“
Ende gut, alles gut?
Auch wenn „Deutschland, bleiche Mutter“ mit vielen Sentimentalitäten und auch Peinlichkeiten („Hexen“) erzählt wird, ist der Film - im Nachhinein - doch ein sehr beeindruckendes Zeitdokument. Das kommt auch davon, dass die Regisseurin ihre eigene persönliche Geschichte nicht verheimlicht, sondern zur Schau stellt und das kann eigentlich nie peinlich sein, denn es gehört sehr viel Mut dazu, den man eigentlich bewundern sollte. Manche Symbolismen sind allerdings tatsächlich etwas plump, etwa wenn Hans in Polen oder Frankreich Zivilistinnen erschießen muss, die wie seine Frau aussehen oder wenn der Jugendfreund von Hans ihn am Ende dann doch noch in seiner Karriere überholt. Die reichen Verwandten von Lene, denen Anna auf den schönen Perserteppich macht, haben natürlich auch 1945 noch alles, obwohl sie 1933 als erstes die drei Propagandisten des Nationalsozialismus über ihrem Kamin hängen hatten. Wer sich anpasst überlebt, die besten aber mussten sterben. „Warum preisen dich ringsum die Unterdrücker, aber /die Unterdrückten beschuldigen dich?/Die Ausgebeuteten/Zeigen mit Fingern auf dich, aber/Die Ausbeuter loben das System/Das in deinem Hause ersonnen wurde!“, heißt es denn auch am Ende des Gedichtes von Brecht, „Deutschland, bleiche Mutter“.
Helma Sanders-Brahms
Deutschland bleiche Mutter - Edition Deutscher Film 4/1979.
Spr.: D. 118 Min. FSK 16. Mono DD. Zweitausendeins Edition. DVD.
Drama
Mit Eva Mattes, Ernst Jacobi, Elisabeth Stepanek, Angelika Thomas u.a. Regie: Helma Sanders-Brahms.
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2013-03-16)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.