Der Schriftsteller als Fotograf. Gerhard Roth hat in den letzten 23 Jahren mehr als 10.000 Fotografien gemacht und viele davon sind nun in vorliegendem Foto- und Essayband abgedruckt. Stationen seiner Reise durch das „unsichtbare Wien“ waren u. a. der Narrenturm im alten AKH, das Wittgensteinhaus, das Mumiendepot im KHM, die Depots im Naturhistorischen Museum oder das Gehörloseninstitut. Aber auch das Flüchtlingslager Traiskirchen oder den Jüdischen Friedhof in der Seegasse hat er aufgesucht und für den Leser „sichtbar“ gemacht. Besonders angetan scheinen es ihm die Mauerflecken getan zu haben, wie er auch bei der Buchpräsentation im Wiener Museum am Karlsplatz erklärte. Er entdeckt in ihnen eine Welt imaginärer Landkarten, wofür er große Leidenschaften hegt, davon kann man sich auch in den Texten überzeugen, die auszugsweise aus seinen Büchern entnommen wurden und den Fotos gegenübergestellt wurden. Darunter befindet sich etwa der Text „Der Mauerfotograf“ aus seinem Roman „Der Berg“, oder „Die Vision“ aus „Labyrinth“. Weitere Texte aus Gugging, Leopoldstädter Requiem, Abgrund und fotografische Gedächntnis. Darüber hinaus wruden in vorliegender Publikation aber auch Texte von Gerald Lind, Martin Behr, Daniela Bartens und Thomas Ballhausen zum literarischen und fotografischen Werk des Schriftstellers Roth abgedruckt. Zudem findet man am Ende des großformatigen Bandes auch ein Interview mit Gerhard Roth von Kristina Pfoser, sowie ein Werkverzeichnis.
Das „Wahlhalla der habsburgischen Monarchie“ auf Schloss Wetzdorf hat der Schriftsteller mit der Kamera besucht und zeigt einen Pappkameraden in k. u. k. Uniform im englischen Garten des Schlosses. Der Armeelieferant Joseph Gottfried Pargfrieder, der Besitzer des Ansehens, sei ein illegitimer Sohn Kaiser Jospehs II. gewesen, die Büsten und Obelisken im Statuenpark zeigen wohl einen Teil seiner vermeintlichen Verwandtschaft, aber auch das Grab vom Grafen Radetzky, der sich sitzend begraben hatte lassen. Gerhard Roth hat hier eine Winterlandschaft aufgenommen, die Bilder sind von satten Brauntönen und Schneestreifen, etwas Frost wohl, durchzogen und bald darauf wechselt er von den Büsten des englischen Gartens auf Schloss Wetzdorf zu jenen des Depots des Alten Dorotheums, wo sie teilweise noch verpackt auf ihr Schicksal warten. Und das wohl schon seit Generationen. Immer wieder faszinieren ihn das Aufnehmen von Mauerstücken, Verwesung oder Verwitterung, auch von Metall, verlassene Grenzübergänge oder alte Hinweisschilder und Orientierungstafeln. Natürlich dürfen auch die Krähen vom Steinhof nicht fehlen, seit jeher ein Zeichen des Wandels der Jahreszeiten und des fortschreitenden Alterns. „Latenz und Aktualisierung“ nennt Thomas Ballhausen seinen Beitrag in dem er sich zu Roths Reise und seiner filmischen Adaption von Jan Schütte äußert. „Das Öffentlichmachen des Verdeckten, das ernste Spiel mit den Kategorien des Obsoleten erlaubt die Darstellung einer Gegengeschichte, die die nur scheinbar verschwundenen Ebenen verdeutlichen.“, schreibt Ballhausen. Die „Rückgewinnung des Vergessenen, Vergangenen und auch Verdrängten“ wäre ein hehres Ziel einer interessanten Reise durch ein bisher verborgenes und unsichtbares Wien, die Gerhard Roth dem Leser mit Kamera und Schreibmaschine ausgerüstet, anbietet. Ein weiteres Fotobuch des Schriftstellers ist übrigens beim selben Verlag erschienen: „Atlas der Stille. Fotografien aus der Südsteiermark“. 2009 erschien auch „Die Stadt - literarische Reportagen über Wien“.
Gerhard Roth
Im unsichtbaren Wien
2010
Christian Brandstätter Verlag www.cbv.at
ISBN 978-3-85033-307-8
Format 24,5 x 28 cm
320 Seiten Hardcover
€ 49,90, sfr 81,00
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2010-04-12)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.