Bettina Röhl, Tochter der Journalistin Ulrike Meinhof und des Konkret-Herausgebers Klaus Rainer Röhl, benutzt für ihre neue Publikation zum Thema (nach: „So macht Kommunismus Spaß“) zahlreiche bisher unveröffentlichte Briefe, Dokumente und Fotos und führte vor allem Interviews mit vielen der damaligen AktivistInnen, so sie noch lebten. Ihre Mutter, Ulrike Marie Meinhof, beging am 9. Mai 1976 in der Haftanstalt Stuttgart-Stammheim Selbstmord. Bettina Röhl war damals 14 Jahre alt und lebte mit ihrer Zwillingsschwester Regine bei ihrem Vater.
Mythos einer Ikone
Natürlich spricht aus ihren Zeilen und ihrem gegenüber „den“ 68ern ausgedrückten Hass auch die Verletzung einer Tochter, die von ihrer Mutter für den vermeintlichen „Kampf für eine bessere Welt“ im Stich gelassen wurde. Die schwadronierende Phraseologie der RAF und ihrer Mutter enttarnt sie als das, was sie ist: leere Worte. Röhl zerbricht sich aber auch den Kopf darüber, wie es dazu kommen konnte, dass ihre Mutter zur Ikone und Märtyrerfigur der Linken stilisiert wurde, obwohl sie aller Wahrscheinlichkeit sogar an Morden beteiligt war. Während ihr Vater seine Frau immer in Schutz nahm und glaubte, sie sei nur ein Opfer von Baader/Ensslin gewesen, fragt sich Röhl öffentlich, ob das, was ihre Mutter getan hat, überhaupt durch irgendetwas zu rechtfertigen ist. Und wenn im Namen welcher Revolution denn?
Radikalisierungsmoment Ehebruch
Gegen Endes des Buches zitiert Röhl geradezu akribisch die ausführliche Korrespondenz ihrer Mutter mit ihren Anwälten und auch einzelne Briefe an ihre Kinder, bevor die „Handlung“ abrupt mit dem Selbstmord ihrer Mutter abbricht. Besonders betroffen macht einen natürlich, wie Meinhof sozusagen „im Namen der Weltrevolution“ ihre Kinder vernachlässigte. Aber muss das nicht jede Frau/Mann, die/der frei und unabhängig ihrer „Karriere“ nachgehen will? Erschütternd sind aber auch die Passagen wie sie über ihren Ehemann und Vater ihrer Kinder spricht/schreibt oder der Umgangston mit ihren Anwälten. Das Private ist politisch, hieß es schon damals. Und genau diese Passagen, wenn Röhl als Tochter über ihre Mutter schreibt, machen das Buch spannend und lesenswert und spitzen eine tiefenpsychologische Interpretation von Meinhofs Hass auf die bundesrepublikanische Gesellschaft wider: War die Meinhof nicht einfach nur eine betrogene Ehefrau und Mutter, die den Hass auf ihren Mann auf die Gesellschaft exkulpierte?
Antifa als Radical Chic
Eine von vielen von Röhls interessanten Thesen ist, dass die maoistische Kulturrevolution eben nicht nur in China, sondern auch in Europa stattgefunden habe. Ausgerechnet am Höhepunkt ihrer Macht, 1968, sei die deutsche Linke dem bewaffneten Kampf verfallen, dabei hätten sie damals gegen den Staat längst „gewonnen“. Röhl, die auch für die Aufdeckung von Joschka Fischers Polizisten-Prügelei verantwortlich zeichnet, sieht nämlich geradezu paranoid auch in Angela Merkel den Siegeszug der 68er bestätigt. „Meinhof war die Urmutter, Merkel ist heute die Königin der Antifa“, schreibt sie, „Mit Macht hat sich Angela Merkel spätestens seit 2011 mit ihrer Energiewende als Kopf der Schlange 68 etabliert.“ Um Missverständnissen vorzubeugen: Röhl ist eine erklärte Anti-68ern und arbeitet als Journalistin u.a. für Boulevardmedien wie TEMPO, BILD, aber auch Spiegel TV, Welt online, Cicero, Wirtschaftswoche, aber auch für das rechtspopulistische Monatsmagazin Tichys Einblick.
Eine lesenswerte neue Perspektive auf die bundesrepublikanische Nachkriegsgeschichte aber auch das Verhältnis der Geschlechter nach dem Großen Krieg.
Bettina Röhl
„Die RAF hat euch lieb“
Die Bundesrepublik im Rausch von 68 - Eine Familie im Zentrum der Bewegung
2018, Hardcover mit Schutzumschlag, 640 Seiten, 13,5 x 21,5 cm, mit 16 S. Bildteil
ISBN: 978-3-453-20150-7
Heyne Verlag
€ 24,00 [D] inkl. MwSt. ; € 24,70 [A] | CHF 33,90
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2019-02-02)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.