„In keiner anderen Landschaft der Welt kann die alte utopische Idee eines entgrenzten paradiesischen Lebens so unmittelbar ihre Erfüllung suchen wie im Meer“, schreibt Dieter Richter, der schon durch andere Monographien von Naturschauspielen beim Wagenbach Verlag für Furore gesorgt hat. Das Besondere an unserer heutigen Zeit ist sicherlich, das wir in der kurzen Spanne eines Menschenlebens tatsächlich den Verlauf eines der großen geologischen Ereignisse beobachten und messen können und ökologisch sensbilsierten Zeitgenossen wird es zwar wahrscheinlcih kein Trost sein, dass wir täglich Zeugen einer archaischen Rivalität zwischen dem Festen und dem Flüssigen werden, wie Richter eilig hinzufügt, denn „im ewigen Spiel von Ebbe und Flut“ wird Meer Land, aber Land auch wieder zu Meer, und somit ist die älteste gleichzeitig auch die jüngste Landschaft der Erde, so sein Resmümee. Mit Grüßen von Captain Nemo
Fast drei Viertel unseres Planeten sind vom Meer bedeckt und lange Zeit vermutete man in diesem größten Teil der Welt nichts als Finsternis und Schrecken, denn wo kein Licht sei, könne auch kein Leben sein. Dass die Artenvielfalt unter Wasser aber ursprünglich sogar viel höher war als auf der Erde und eigentlich der Sprung eines Frosches den Anfang des Lebens auf dem Land eher als Ausrutscher markierte, das wussten frühere Generationen noch nicht und erst die Tiefseetaucherei entdeckte eine weite Welt voller Leben für sich. Das Meer war plötzlich nicht mehr der Feind des Menschen, wie etwa in der Antike, sondern auch sein Ernährer, denn seine Lebensräume umfassen das vierzehnfache des terrestrischen, wie Richter unterstreicht, und das bis zum 11.000 Meter unter dem Meer. Leviathane wurden hier ebenso vermutet wie Riesenkaimane und Meeresschildkröten, Captain Nemo läßt grüßen. Das große Tohu-wa-bohu
Das Meer sei immer auch Mittlerin der Entstehung menschlicher Kulturen gewesen und die Schifffahrt habe erst das möglich gemacht, was man heute wohl Globalisierung nennen würde. Am Anfang stand ein Tohu-wa-bohu, ein amorphes biblisches Urgewässer, vielleicht hatte sich ja aus der Sintflut das entwickelt, was wir heute „Land“ nennen und so sind alle Kontinente auch nur Inseln in den Ozeanen oder dem einen Urmeer, dem Okeanos. „Es ist das Wasser, aus dem alles entstanden sei und zu dem alles wieder zurückkehre“, formulierte Thales von Milet schon 600 v. Chr. und doch herrschte zu seiner Zeit vor allem Unbehagen und Angst gegenüber dem Meer vor, das durch einen Zeugungunsakt zwischen Uranos und Gaia enstanden war, die aus eigener Kraft zuerst Pontos (Meer) und mit Uranos dann Okeanos, der Ozean, der den Erdkreis umspannt, gebar. Der Regenbogen – Phänomen des abziehenden Unwetters –sollte den Bund zwischen Mensch und Gott besiegeln, hieß es dann später in der Genesis und Jeremia beschreibt den Sand als Grenze des Meeres, aber auch das Meer als Grenze für den Menschen. Diese wurde in der heutigen Zeit längst überschritten, denn das Meer ist längst atomare Müllhalde, zum Endlager des Todes geworden. „in dem mer siner grundlosichkeit“
Von Inseln und Meerjungfrauen, den ersten Badefreuden in Eselskarren und Badeanstalten in Holstein, Schrifstellern und Weltumseglern, berichtet das hier vorliegende große Narrativ Dieter Richters über das mindestens ebenso große Thema, das Meer, das schon immer Poeten und Piraten inspiriert hatte, aber immer noch auch eines der beliebtesten Reiseziele von Touristen darstellt. „High life“ soll es ein gewisser Heinrich Heine genannt haben, wenn er am „Tummelplatz lockerer Geselligkeit“ promenierte und alleinstehende Demoiselles bei der „Heilung“ im Strandbad beobachtete, flüchtige Blicke mit den „schönen Weibern der Cour“ wechselnd, Spielbanken sprengte und Bälle im „Conversationshaus“ besuchte. „Es geht da so wie an allen Orten, wo Bäder sind, man holt ein bisgen verlohrne Gesundheit und verliehrt sein Herz“, soll auch Georg Christoph Lichtenberg ironisch gemeint haben, in einer Zeit, in der sich das Vergnügen gerade zu entwickeln begann. Entdeckt soll die Badefreuden aber ein gewisser Engländer namens Richard Russell haben, an dessen Geburtshaus in Brighton noch heute eine Gedenktafel mit den Worte prangt: „If you seek a monument, look around.“ Dieter Richter hat diesem Monument ebenfalls ein Denkmal gesetzt und zeigt es in all seinen Facetten und Spiegelungen, seiner Geschichte und Kunstgeschichte oder als Inspirationsquelle für Dichter und Schriftsteller.
Dieter Richter
Das Meer. Geschichte der ältesten Landschaft.
Wagenbach Verlag
2014
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2014-02-11)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.