„Ich erkannte dass ich mit Turbo unterwegs war und alle anderen nicht. Ich brannte während die anderen lediglich versuchten, den Anschluss nicht zu verlieren.“ An den Anfang seiner Autobiographie stellt Richards, der Gitarrist und Songwriter der ältesten Rock `n´ Roll Band seit seiner Geschichte, die Verhaftung auf der US-Tournee 1975, als er und einige Drogenkumpels von der Polizei in Arkansas gefilzt wurden und sich eine Art Schelmengeschichte daraus entwickelt, die schließlich zu einem unerwarteten Freispruch führt. Vielleicht will Richards damit nur illustrieren, wie weit es die Rolling Stones damals schon gebracht hatten, dass selbst die Gesetze der USA ihnen nichts mehr anhaben konnten und dass sie quasi unberührbar geworden waren. Irgendwie wird einem aber auch während der noch folgenden 700 Seiten nicht ganz klar, warum er gerade diese Geschichte an den Anfang stellte. Kapitel 2 beginnt dann jedenfalls ganz von vorne, Kinderfoto mit Gehschule inklusive. Der raue Rock-Rabauke musste wohl damals schon „gebändigt“ werden, vielleicht hatten ihn aber auch einfach die einschlagenden Bomben und Luftschutzbunker so unruhig werden lassen, denn Keith ist ein Kriegskind, er wurde 1943 geboren, mitten im Londoner Bombenhagel und das betont er auch mehrmals, vielleicht als Entschuldigung für irgendetwas, für das er sich vielleicht sogar ein kleines bisschen schämt.
Kindheit in Darftford/London
Wer aus Dartford, dem Londoner Arbeiterviertel, kommt, so glaubt er selbst, aus dem kann eigentlich auch gar nichts Normales werden. „Jeder der aus Dartford kommt, ist ein Dieb, das liegt uns im Blut.“ Die anderen wurden im Dartford Stone House, ein Asyl für Irre, untergebracht, was bei der „Brüllpädagogik“ der damaligen Lehrer sicherlich kein Zufall war. Damals gab es noch Pferdefuhrwerke und viele wilde Hunde, es stank. Einer der dies ändern wollte war Richards Großvater Ernie, er war einer der Begründer der Labour Party in Walthamstow und setzte sich für die Arbeiter und ihre Rechte ein. Aber Keith Richards wird in seiner Biographie noch viele weitere Beweise für seine street credibility liefern. Nachdem er schon als 12-jähriger seinen „preisträchtigsten Gig“ in der Westminster Abbey als Chorknabe absolviert hatte, machte ihn die darauf folgende Benachteiligung in der Schule zum Rebellen. Die Zeit, die die Chorjungen fürs Proben brauchten, versäumten sie nämlich in der Schule und dafür wurden sie dann auch noch bestraft, nachdem sie für die Reputation der Schule geschuftet hatten. Ganz abgesehen für die Schmähungen der Klassenkameraden, die sie als Tuntenschwuchteln verschrien und sie auch noch verprügelten. „England lag oft unter einer dichten Nebelglocke – auch unter einem Nebel aus Worten. Gefühle würden nicht gezeigt, man sprach überhaupt möglichst wenig.“ Was wohl für viele Nachkriegsgesellschaften galt, prägte im Besonderen unseren Gitarristen, der sich damals am liebsten in seine Gitarrenkoffer eingesperrt hätte, so gerne mochte er den Duft des Holzes und Leims. Eine Gewohnheit, die er nie mehr so ganz loswerden würde.
Die Gründungsphase der Rollenden Steine
Die Initialzündung kam dann mit „Heartbreak Hotel“ und der Abschaffung der Wehrpflicht. Plötzlich hatten die Jungs zwei Jahre frei, die zur Verfügung standen, was auch immer zu machen. Keith erweiterte sein Gitarrenrepertoire und lernte Mick, den Eisverkäufer, kennen. An ihm bewunderte Richards zuerst vor allem seine Plattensammlung, später dann vor allem seine Bühnenperformance. „Wir haben bei null angefangen, mit Kabeln und Röhren.“ Die eigentliche Geburt der Rolling Stones datiert Richards mit Mai 1962, also vor genau 48 Jahren, als sie in einem Pub in Soho ihre erste Probe abhielten, in der Wardour Street, natürlich im Rotlichtviertel, wie es sich für harte Jungs gehört. Überrascht wird man immer wieder von Richards` Detailwissen, denn er weiß sogar noch welche Hose Ian Stewart („der Antrieb in der Band“) damals anhatte. Keith Richards führte nämlich während all der Jahre mit den Stones sein Tagebuch und auf diesen Aufzeichnungen beruht auch seine Autobiographie, die mit so manchen Überraschungen auch für hartgesottene Fans aufwartet. Witzig ist auch seine Erzählweise, ein etwas lakonischer englischer Humor wird transportiert, etwa wenn er die Namensklärung der Stones kommentiert: Als Brian Jones ihren Auftritt bei einer Veranstaltungstippzeitung ankündigen wollte und diese fragten wie sie denn hießen, lag vor ihm gerade ein Album von Muddy Waters und der erste Titel hieß „Rollin` Stone“. Sixpence gespart und ohne lange zu überleben einen wirklich genialen Namen gefunden. Die „Rotzbuben“ gaben damals den verschiedenen Rotzarten sogar eigene Namen und spielten sich ganz nach oben in die Liga der unerwünschtesten Schwiegersöhne Englands. Brian Jones war damals ein großes Vorbild für alle, er sei zwar „ein grausames, bösartiges Arschloch gewesen“, schreibt Richards, dafür aber „klein und blond“. Sie hätten damals einfach nur eines gewollt: „Wir verachteten Geld, wir verachteten Sauberkeit, wir wollten nur eines sein, black motherfuckers.“
Herz auf der Zunge und die „dirty licks“
Als „unbezahlte Propagandisten des Chicago Blues“ hätten sie damals ihre Rolle vor allem darin gesehen, die amerikanische Musik der Schwarzen in England zu verbreiten. Strom, Essen und an dritter Stelle die Frauen, seien vielleicht noch eine weitere Triebfeder gewesen, denn damals hatten sie es nicht gerade dick, dafür fanden sich immer wieder Mädels aus der Nachbarschaft in Chelsea, die die armen Bluesmusiker wieder aufpäppelten. Um sich den professionellen Schlagzeuger Charlie Watts leisten zu können, hungerten sie sogar und Bill Wyman nahmen sie vor allem wegen des Pauschalangebots: er kam mit einem Verstärker, ein Vox-AC30, damals ein Geschenk des Himmels. Keith Richards zitiert immer wieder auch andere „Zeitzeugen“ in seiner Biographie, um seine eigenen Anliegen zu untermauern oder einfach nur für mehr Authentizität zu sorgen. Am schmeichelhaftesten ist dabei wohl, was Steve Jordan über ihn sagte: „Er trug sein Herz auf der Zunge.“ Und um ehrlich zu sein, liest sich auch seine Autobiographie ein bisschen so. Keith kommt wirklich authentisch und ohne viel Machoallüren rüber, abgesehen von ein paar Messerstechereien und Schlägereien um jemandes Ehr. „Jungs tun so etwas halt.“ Selbst Charlie Watts soll Mick Jagger mal eine gescheuert haben, dass dieser bis an den Rand einer Terrasse rutschte und Keith ihn nur deswegen vor dem Abgrund rettete, weil er sein bestes Sakko trug, das er ihm gerade geborgt hatte, als Mick Charlie „seinen“ Schlagzeuger nannte. Alles natürlich mit sehr viel Ironie und Witz erzählt, lakonisch wie Keith nun mal zu sein scheint. „Aufstehen ist eine Sache, Aufwachen eine andere. Das dauert bei mir schon mal drei bis vier Stunden. Der Weckruf „ladies and gentleman here are the rolling stones“ kann dabei ganz schön ermunternd wirken.
Keith und die Frauen: der Schüchti
Seines Erachtens hätten sich die größten Machos der Nation durchaus auch Verdienste um die Frauenbewegung erworben: „Meiner Meinung nach waren es insbesondere die Beatles und die Stones, die die Mädchen von ihrem `Ich bin so klein und schwach´-Denken befreiten.“ Die zu Barbie-Puppen erzogenen Frauen der 50-iger wehrten sich in den Sechzigern gegen ihr Image und vor allem sie waren es ja auch, die die Rockgruppen mit ihrem Gekreische so groß gemacht hatten. Richards hatte sogar Angst vor diesen wilden weiblichen Teenagerhorden, wie er in seiner Autobiographie gerne und nicht ohne Humor eingesteht. Er habe ohnehin nie in seinem Leben Mädchen angebaggert, er wisse gar nicht, wie das ginge. Instinktiv überlasse er es lieber der Frau, die Initiative zu ergreifen: „Meine Strategie ist eher, abzuwarten und dadurch eine gewisse Spannung zu erzeugen. Bis irgendwer den ersten Schritt macht. Entweder kommt die Botschaft bei ihr an, oder sie kommt nicht an.“ So soll es auch mit Anita Pallenberg gewesen sein, der ersten Frau von der er Kinder bekam, und die er eigentlich Brian Jones ausgespannt hatte. Aber auch Mick habe sich mal an ihr versucht, worauf sich Keith wiederum mit Marianne (Faithfull) gerächt habe. O-Ton Richards: „Anita ist eine Zockerin. Aber Zocker tippen manchmal daneben. (…) Jedenfalls hatte sie mit dem winzigen Pimmel keinen Spaß. Ich weiß, dass er zwei gigantische Eier hat, aber das macht den Spalt auch nicht voll, oder?“ Die beiden waren wohl nicht nur als Songwriter in Konkurrenz, sondern auch bei den Frauen. Anita und Keith blieben aber dennoch lange genug zusammen um zwei Kinder zu kriegen und ihren Affen (die gemeinsame Heroinsucht) zu pflegen. Da sie aber öfters ausgezuckt sei, habe er sich schließlich von ihr getrennt und irgendwann Patti (ein Model) kennen gelernt, mit der er heute noch verheiratet ist und zwei Töchter hat. „Sie hat mich mit ihrem Lachen aus dem Dunkel geholt. Sie hat mich wirklich vor dem Abgrund gerettet.“ Keith war damals gerade dabei, sich von seiner Heroinsucht zu lösen. Eine letzte Anekdote noch über seine Groupies: Die deutsche Kommunardin und selbsterklärte „Bavarian Barbarian“ habe ihm in einer ihrer gemeinsamen Liebesnächte sogar mal einen Ohrring ausgerissen, sodass am nächsten Morgen sein blutiges Ohr am Kopfpolster festgeklebt sei. Keith hätte wohl besser doch zuerst die Initiative ergriffen.
Keith über andere Aspekte des Lebens
„Ansonsten schüttele es mich bei dieser unglaublich überzogenen Arroganz des Kunstbetriebs derart, als wäre ich auf Turkey und dabei nahm ich das Zeug noch nicht mal.“ Als Gitarrist der Rolling Stones hatte er natürlich eine Vielzahl von wichtigen Leuten kennen gelernt, aber anders als Mick Jagger, machte er sich eigentlich gar nichts draus, sondern frönte lieber seinen Lastern („John Lennon verließ mein Haus immer in der Horizontalen.“ Er vertrug einfach den Stoff nicht.). Als er Anfang der Achtziger Jahre aus seinem Drogenrausch wieder aufwachte, wurde dies fast zur Belastungsprobe für die Band. Mick Jagger hatte die „Firma Rolling Stones“ gänzlich übernommen und sich derart gut eingerichtet, dass es einmal als Konzertankündigung sogar hieß „Mick Jagger und die Rolling Stones“. Aber die hatten alle nicht mit Richards gerechnet, der Jagger wieder von seinem LVS (Lead Vocals Syndrom) runterholte und ihn erst mal zurechtschraubte. Natürlich dürften auch die mangelnden Verkaufszahlen der Solokarriere dazu beigetragen haben. Richards schimpft besonders in dieser Phase gerne über Jaggers mangelnden Geschmack und seinen Snobismus, der ihn Anfang des Milleniums sogar noch zum Ritter machte. Aber natürlich liebt er seinen Kumpel, besonders jetzt, wo er ihm die Flausen wieder ausgetrieben hat. So manches andere Seemannsgarn wird noch von dem Piraten Keith Richards entsponnen, der heute auf Parrot Island haust, etwa die Geschichte um den legendären Marsriegel, der bei der Razzia in Redlands an einem ganz bestimmten Ort gefunden worden sei oder die Legenden über seine angeblichen Blutwäschen mit denen er seinen Heroinkonsum übertauchte. Natürlich war Keith auch Rastafari noch bevor es modern war. Alle die ihn nachahmen wollen sei ein weitere cooler Spruch von ihm ans Herz gelegt: „Verdammte Scheiße, ihr sollt tun was ich sage, nicht was ich tue.“
Keith Richards
LIFE
Heyne Verlag
2010
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2010-12-31)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.