Der hier anzuzeigende Debütroman der 1978 geborenen und mit ihrer Familien in Berlin lebenden Schriftstellerin Anne Reinecke ist ein wirkliches literarisches Ereignis, das schon vor einem Erscheinen mit einem Stipendium der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin ausgezeichnet wurde.
Wegen seines künstlerischen Reichtums, seiner poetischen Sprache und seiner menschlichen Tiefe werden sicher noch weitere Auszeichnungen dazu kommen, vielleicht eine Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2018.
Die Hauptperson des bewegenden Romans ist Karl, der zu Beginn der Handlung 26 Jahre alt ist. Er ist der Sohn von August und Anna Stiegenhauer, die seit langem als die die deutsche Kunstszene dominierenden Künstler nicht nur in ihrem Heimatland gefeiert werden.
In dieser total symbiotischen Beziehung war von Anfang an kein Platz für ein Kind. Karl ist vor etwa zwei Jahrzehnten mit der Begründung, ihm die bestmögliche Erziehung zukommen zu lassen, in ein Internat gekommen und dort aufgewachsen. Dort hat er auch einen neuen Nachnamen angenommen. Unter diesem Namen ist er seit einigen Jahren als Künstler in Berlin erfolgreich und total angesagt.
Als Karl, der seit seinem Abitur vor sieben Jahren nicht mehr zu Hause bei seinen Eltern war, die Nachricht vom Tod seines Vaters erhält, wird sich sein Leben, wie sich herausstellen wird, ab diesem Augenblick total verändern. Der Vater hatte sich selbst getötet, weil er die Vorstellung, ohne seine im Sterben liegende Frau leben zu müssen nicht ertragen konnte.
Er fährt nach Leinsee, jenen Ort, an dem seine Eltern wohnen. Er muss dort die Beerdigung des Vaters organisieren und sich um die sterbende Mutter kümmern. Die jedoch erholt sich nach einer Operation auf geien auch für die Ärzte überraschend Weise von ihrer Krankheit und Karl kommt ihr so nahe, wie er es sein ganzes Leben nicht erlebt hat. Allerdings verwechselt seine Mutter ihn konsequent mit ihrem Mann.
Während seine Freundin Mara in Berlin ihn immer heftiger drängt, nach der Beerdigung des Vaters, schnell nach Berlin zurückzukehren, auch weil wichtige Kunsttermine auf ihn warten. Denn Karl hat sich zwar mit einem eigenen, sich von dem der Eltern scharf abhebenden Stil nicht nur in Berlin einen Namen gemacht und die Händler reißen ihm seine Werke geradezu aus den Händen. Doch er weiß, dass er von dem Lebensstil von Vater und Mutter geprägt ist, der nicht nur in deren Arbeiten eingeflossen ist, sondern auch Fundament für seine eigene Karriere als Künstler bildet, indem er sich deutlich von ihm abhebt.
Nun in Leinseesieht er sich in einer für ihn ungewohnten Lage, die seine gewohnte Ordnung durcheinanderwirbelt. Da ist zum einen der persönliche Assistent seiner Eltern, der genau zu wissen scheint, was mit dem Werk der Stiegenhauers zu geschehen hat, den Karl aber abblitzen lässt.
Und da ist etwa achtjähriges Mädchen, das eines Tages im Garten des Hauses am Leinsee, das der Vater ihm vermacht und das er, so wird sich herausstellen, in den folgenden Jahren zurückgezogen als Atelier und bescheidenen Wohnraum nutzten wird, auf einem Baum sitzt. Zu diesem Mädchen entwickelt Karl bald schon eine besondere Beziehung. Tanja, so heißt sie, wohnt offenbar in der Nachbarschaft und kommt, wahrscheinlich ohne Wissen ihrer Eltern, immer wieder in den Garten Karls. Mit ihrer kindlichen Unbekümmertheit und ihrem fröhlichen Wesen lockt sie Karl zurück in ein Leben voller ungeahntere Leichtigkeit, das er völlig umkrempelt und, obwohl nach wie vor mit seinem Werken sehr erfolgreich, sich von dem Druck des Kunstmarktes löst. Tanja bringt Karls Kreativität zu völlig neuen Höhepunkten, genauso wie er ihren zum Leuchten verhilft. In der Freundschaft mit Tanja, die sich über zehn Jahre über das ganze Buch hinzieht, begegnet ihm seine eigene Kindheit und Jugend und er macht Frieden mit seiner Vergangenheit.
Ihre Präsenz, Ihr Wesen und was sie in ihm auslöst, ist auch der Hauptgrund für seine Entscheidung, in Leinsee zu bleiben.
Anne Reinecke hat jedes Kapitel ihres spannenden und berührenden Buches mit einer Farbe überschrieben, die durch ein Adjektiv nähe qualifiziert wird. Die so entstehende Farbpalette kann man als Metapher sehen für Karls vielfältigen und sich auch im Laufe der Handlung verändernden Gefühlen sehen.
„Leinsee“ ist ein Roman über einen Menschen, der sich aus einer großen Traurigkeit befreit, und dem es gelingt, mit seiner Vergangenheit sich auszusöhnen und sogar zwischen ihr und seiner Gegenwart ein Band zu spannen. Ein Roman, der erzählt von einer ungewöhnlichen Eltern-Kind –Beziehung und von einer zarten, sich langsam entwickelnden Liebe.
Ich bin begeistert von diesem Debüt, das der Lektor von Diogenes mit viel literarischem Gespür aus der Vielzahl der eingesandten Manuskripte zielsicher ausgewählt hat. Glückwunsch an den Verlag und Hochachtung vor der Autorin, die uns hoffentlich bald schon mit einem Nachfolgeroman beschenkt.
Der ungekürzten Lesung von Franz Dinda kann man anhören, mit welcher Begeisterung und Bewunderung er selbst das Buch zunächst gelesen und dann auch eingelesen hat. Seine feinfühlige Interpretation wird diesen sensationellen literarischen Debüt voll gerecht.
Anne Reinecke, Leinsee (Hörbuch), Diogenes 2018, ISBN 978-3-257-80390-7
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2018-05-09)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.