Eine Frau liegt im Krankenhaus. Sie wird sterben. Angehörige (?) sind bei ihr, würden gerne noch einmal mit ihr sprechen, sind aber davon überzeugt, dass die Sterbende sie nicht mehr hören kann. Es ist 21.45 Uhr.
Zehn Minuten später ist die Frau tot:
„Das war es. Wie spät ist es? 21 Ihr 55. Fünf vor zehn. Es ist zu Ende.
Was hat sie gesagt? Hast du es verstanden? Sie hat doch etwas gesagt. Ruf die Schwester.
Tanzen – ich hab ‚Tanzen‘ verstanden. Tanzen? Das kann nicht sein.
Ich wollte noch einmal mit ihr sprechen.
Sie so vieles fragen.“
Vielleicht war es Manuela Reichart selbst, die da am Sterbebett ihrer Mutter(?) sitzt und über versäumte Gespräche trauert. Vielleicht hat sie sich eine solche Situation auch nur vorgestellt, als sie die fragmentarischen Gedanken der sterbenden Frau in ihren letzten zehn Lebensminuten aufschreibt. Zehn Minuten, in denen „ein ganzes Leben“ vorbeizieht. Erinnerungen an die Kindheit, an die erste Liebe, die Tanzstunde, gewonnene und noch mehr verlorene Lieben, Glücksmomente und noch mehr Enttäuschungen. Begegnungen und verpasste Gelegenheiten, Einsichten und Glaubenssätze, Zweifel und Verzweiflung.
Es ist eine sprachlich knappe Annäherung an ein Leben, ein ganz normales Frauenleben, in dem es immer nur um die Liebe ging, meist um die, die sich nicht erfüllte. Doch an der Schwelle des Todes tanzt sie hinüber:
„Ja, ich schwebe. Wie seltsam. Alles ging so schnell: Das wäre es also.“
Und ein wunderschönes Gedicht von Rainer Maria Rilke begleitet sie:
„Nun wachen wir mit den Erinnerungen
und halten das Gesicht an das, was war;
flüsternde Süße, die uns einst durchdrungen,
sitzt schweigend neben mit gelöstem Haar.“
Manuela Reichart, Zehn Minuten und ein ganzes Leben, S. Fischer 2012, ISBN 978-3-10-063604-1
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2014-05-07)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.