Ein Jahr ist es nun schon her, dass die klare und deutliche Stimme Marcel Reich-Ranickis nicht mehr zu hören ist in den deutschen Feuilletons. Unter den anderen großen Literaturkritikern ist auch keiner in Sicht, der jemals in seine Fußstapfen treten könnte. Aber vielleicht geht das auch gar nicht.
Wenn man das von dem Marburger Literaturwissenschaftler Thomas Anz herausgegebene Buch „Meine Geschichte der deutschen Literatur. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart“ zur Hand nimmt und beginnt darin zu lesen, dann bekommt man auch einen Eindruck, warum das so ist.
Die Auswahl von Thomas Anz ist genau nach dem Vorsatz Reich-Ranickis entstanden, „der Verzicht auf einen Kanon würde den Rückfall in die Barbarei bedeuten“. Die vorliegende Sammlung ist die bisher umfassendste Ausgabe von Essays eines Menschen, der sein ganzes Leben lang seine leidenschaftliche Begeisterung für die deutsche Literatur zeigte, wo immer er einen geeigneten Platz dafür fand. In großen deutschen Feuilletons, dann auch in der unvergessenen Fernsehsendung „Das Literarische Quartett“ und immer wieder in eigenen Büchern hat er immer für eine eigenwillige Auswahl an Literatur gestanden und dabei nicht selten anderen Autoren Unrecht getan.
Auf jeden Fall hat Reich-Ranicki immer „Kante“ gezeigt, wie die jungen Leute heute sagen würden. Die vorliegende Auswahl von Essays zeigt das deutlich. Thomas Anz, ein ganz besonderer Kenner des Werks von Reich-Ranickis hat sie in 5 Teile gegliedert.
In einem ersten einführenden Teil sind drei Essays wieder zugänglich gemacht, die sich allgemein mit deutscher Literatur befassen:
„Das Herz – der Joker in der deutschen Dichtung“ (1982)
„Die verkehrte Krone oder Juden in der deutschen Literatur“ (1995)
„Frauen dichten anders“ (1998)
Es folgen die Kapitel.
• Vom Mittelalter bis zur Romantik
• Vormärz und Realismus
• Literarische Moderne bis 1945
• Von der Nachkriegsliteratur bis zur Gegenwart
Es macht Sinn, die drei Essays zur Einführung zuerst zu lesen, bevor man dann, sicher in einer subjektiven Auswahl sich andere Texte des Buches vornimmt. Schon hier wird deutlich, wie enthusiastisch, aber auch provozierend und zornig, der große Mann der Literatur an sein Sujet heranging. Beeindruckend immer wieder sein fast enzyklopädisches Wissen nicht nur über die deutsche Literatur.
In einen umfangreichen Anhang findet der Leser nicht nur eine Übersicht der gesammelten Schriften Marcel Reich-Ranickis +über deutsche Literatur von 1963 bis 2012, sondern auch ein Personenregister und ein Nachweis über die Erstveröffentlichungen und Wiederabdrucke der hier versammelten Essays.
Eine beeindruckende editorische Leistung.
Marcel Reich-Ranicki, Meine Geschichte der deutschen Literatur, DVA 2014, ISBN 978-3-421-04663-5
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2014-09-18)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.