Man Ray hat in seinem fotographischen Werk nicht nur die Menschen porträtiert, sondern gerade auch das Bild geprägt, das wir uns von ihnen heute machen. Seine Perspektive auf die Person erhält den oder die Abgebildete(n) für die Ewigkeit und fixiert ihn oder sie in dieser Position auch für die Nachgeborenen. Man Ray zeigt etwa einen ernsten alten Herrn mit Zigarette in der Hand und breitem Nadelstreifanzug, der sich bei genauerem Hinsehen als der deutsche Schriftsteller Thomas Mann entpuppt, der in den Dreißiger Jahren in den USA im Exil war und sich dann später in der Schweiz niederließ. Einen Amerikaner in Paris zeigt die gegenüberliegende Seite, den Skandalautor Henry Miller, an der Seite einer nicht näher definierten nackten Schönheit, beide verbunden durch einen scharfen Strich, der durch die Bildmitte geht und in der Hälfte einen leichten Knick bekommt: genau da, wo die beiden sich berühren. Ist es Magie oder Improvisation oder bare Inszenierung? Man Ray versteht es, seine Modelle so zu porträtieren, wie sie es sich wohl selbst auch am meisten gewünscht hätten.
Das vorliegende Porträtbuch der Fotographien Man Rays wird bald zu einem „who is who“ der Künstlerszene der 40er und 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Die 500 schönsten Portraitaufnahmen wurden dafür aus einem Fundus von 12.000 (!) Negativen ausgewählt, einem Archiv das sich im Pariser Centre Pompidou befindet und in einer großangelegten Digitalisierungskampagne nun auch für die Nachwelt gerettet wurde. Das größte Problem mit dem die Archivare Man Rays zu kämpfen hatten, war wohl die Tatsache, dass dieser seine Porträts niemals beschriftete. Man kann sich also vorstellen, wie viel Arbeit allein die Identifizierung machte. Doch diese Arbeit bleibt dem Betrachter der vorliegenden Publikation selbstverständlich erspart. Der Schirmer Mosel Verlag hat die Porträts von Man Ray nämlich sämtlich mit Kurzbiographien der abgebildeten Personen ausgestattet und gerade dadurch wird das Buch auch zu einem Lexikon, das sogar – dankenswerterweise - systematisch nach dem Analphabet angelegt wurde. So ergab sich die Gegenüberstellung zwischen Mann und Miller natürlich nur rein zufällig.
Der eigentlich 1890 als Emmanuel Rudnitzky geborene Man Ray war zwar Amerikaner aus Pennsylvania, lebte jedoch bis zu seinem Tod in Paris (1976), wo er bald Anschluss an die wichtigsten künstlerischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts fand und zu ihrem Porträtisten wurde: Dadaisten und Surrealisten gingen in seinem legendären Studio in der Rue Campagne-Première Nr. 31. ein und aus. Aber er war nicht nur ein begabter Fotograph, sondern arbeitete auch als Objektkünstler und gehört wohl in beiden Stilrichtungen zu den wichtigsten Impulsgebern der Moderne. Selbst den Experimentalfilm prägte er mit neuen Techniken wie etwa Spiegelungen, Doppelbelichtungen, Photogrammen, Solarisationen und der Photocollage. Man Ray, den eine enge Künstlerfreundschaft zu Marcel Duchamp prägte, verdiente seinen Lebensunterhalt aber hauptsächlich als Fotograph und porträtierte seine Freunde unter den Dadaisten und Surrealisten, die Künstler vom Montparnasse, die Amerikaner der Lost Generation, die internationale Avantgarde, aber auch die Pariser Prominenz aus der Welt der Mode, des Theaters oder des Kinos und sogar die Celebrities aus Hollywood. Ein mir besonders am Herzen liegendes Porträt von Antonin Artaud wird erstmals auch in seiner ganzen Größe abgebildet und nicht nur als Portät. Das 1926 entstande Foto Man Rays zeigt Artaud nämlich auf einem Stuhl sitzend, mit seinem unvergleichlichen leicht enttäuschten, leicht zornigen Blick. Und wer umblättert sieht die entblätterte Freundin Artauds, Genica Athanasiou, in eine Art Teppichumhang gewickelt. Wie der Zufall halt so spielt.
Das „visuelle Prominentenverzeichnis“ ist eine weitere hochwertige Produktion des Schirmer Mosel Verlages, die ein halbes Jahrhundert französischen Kulturlebens in einem außergewöhnlichen Bilderreigen neu auferstehen lässt und zudem als praktisches Handwerkszeug, nämlich Lexikon, für in der Kunst tätige Kulturschaffende verstanden und benutzt werden kann.
MAN RAY PORTRAITS
Paris, Hollywood
Paris 1921–1976
Aus dem Man Ray-Archiv im
Centre Pompidou Paris
Hrsg. V. Clément Chéroux
320 Seiten, 517 Abb.
ISBN 978-3-8296-0503-8
€ 58.-, €(A)59.70, sFr 81.90
Schirmer/Mosel
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2011-05-14)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.