In Deutschland ist Ramuz nie richtig populär geworden. In der deutschsprachigen Schweiz sind seine Hauptwerke viele Jahre lang immerhin greifbar in Übersetzungen gewesen. Wenigstens in der Theorie, wenn auch nicht unbedingt im praktischen Vollzug, wollte man die Klassiker der Westschweizer Literatur sich aneignen können. So entspringt diese Neuübersetzung aus dem (mittlerweile zum Hanser Verlag gehörigen) Zürcher Nagel & Kimche Verlag einer respektablen „Kollektion“, die die bedeutendsten, eher vergessenen Klassiker des modernen Erzählens der Eidgenossen aus ihrem Dornröschenschlaf hervorholen will.
Als Fischer-Taschenbuch hatte der Bergroman einst den Titel „Das große Grauen in den Bergen“ getragen. Von Ramuz‘ zahlreichen anderen Walliser Schicksalsepen ist auf Deutsch derzeit kaum eines greifbar. Um eine Größendimension anzudeuten: Ramuz ist der schnurrbärtige Mann auf der 200-Franken-Banknote. Ramuz war der Librettist von Strawinskys „Die Geschichte vom Soldaten“. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte er sich in Paris aufgehalten.
Ramuz, protestantischer Stadtmensch aus Lausanne, war beinahe dreißig Jahre alt, hatte den Beruf des Schriftstellers schon Jahre zuvor ergriffen, als er über eine Auftragsarbeit zur von nun an lebenslangen Thematik und zur Szenerie seiner klassischen Romane (allesamt ziemlich knapp im Umfang) gelangte. Ein Verlag ließ ihn ein Reportagebuch über das Leben der Bauern in den Walliser Bergen recherchieren. Dort waren die Leute katholisch, wobei sich alte heidnische Unterströmungen gehalten hatten. In den kargen Seitentälern der Rhone kämpften sie sich durch Leben voller unendlich harter Bergbauernarbeit. Wer aus der Stadt und vom See kam, betrat eine archaische, eine alte Welt.
In „Die große Angst in den Bergen“ wird erzählt, wie die leichtsinnigen Jungbauern, von Besitzgier getrieben und vom Bürgermeister unterstützt, die zögerlichen Alten und Bedächtigen im Dorf überstimmen. Über den Sommer soll eine hoch am Bergstock gelegene Alpe wieder in Betrieb genommen werden, die man zwanzig Jahre verflucht geglaubt und wie den Teufel gemieden hatte. Unheimliche Geschehnisse mit mehreren Toten waren die Ursache gewesen.
Die volkstonhafte, archaische Grimmigkeit solcher exemplarischer Geschichten über die Hybris des winzigen Menschleins gegenüber Gottes steinerner Allgewalt, bei Ramuz ist sie nicht „tümlich“, wie Brecht sagte, nicht kitschig und idyllisch und süßlich wie im deutsch-österreichischen Alpenkino der fünfziger Jahre, sondern moderne Errungenschaft des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Eine raffiniert vorgespiegelte Einfach- und Naturgewachsenheit - wie wir sie bei Autoren wie Halldór Laxness oder John Steinbeck auch heute noch für verdienstvoll erachten. Nach hundert Jahren Seilbahntourismus, Après-Ski-Ballermann und medialer Vernutzung durch die Hellwigs und Moiks braucht es inzwischen eine Art Sprung über den Schatten, um sich überhaupt ernsthaft einzulassen auf so ein Buch.
Charles Ramuz‘ genau berechnetes Schweifen zwischen, auch stilistisch so vermittelter, Volkskundebehäbigkeit und psychoanalytischer Charakterzeichnung ist riskant, aber ihm gelingt das. Seine Sturheit beim Wiederholen einfachster Sätze kurz nacheinander „verfremdet“ die „Große Angst in den Bergen“ und sein geschmeidiges Schlüpfen von einer Erzählperspektive in die nächste, darunter die des allwissenden Erzählers, macht den Roman auf der einen Seite „traditionell und wuchtig“, auf der folgenden dann wieder „zeitgenössisch und kühl“.
Zitat:
„Und wenn wir genug gefunden haben, gehn wir fort. Wir gehn über die Pässe. Wir lassen die krepieren, wo sie sind. Wir lassen sie mit ihrem Vieh verrecken; wir gehn über die Pässe mit unserm schönen Vorrat, der ist viel wert in den Städten. Und wir teilen den Erlös ... Du hast eine Braut; der schreibst du, sie solle kommen.“
Er trat näher heran, er ließ seine Steine klirren - auf einmal ist Joseph fort.
Er hatte sich abgewandt; und der andere, jetzt in Josephs Rücken:
„Du willst nicht? Wie du meinst. Du hast ja noch Zeit, drüber nachzudenken ...“
Er lachte wieder.
„Und wenn wir genug gefunden haben, gehn wir fort. Wir gehn über die Pässe. Wir lassen die krepieren, wo sie sind. Wir lassen sie mit ihrem Vieh verrecken; wir gehn über die Pässe mit unserm schönen Vorrat, der ist viel wert in den Städten. Und wir teilen den Erlös ... Du hast eine Braut; der schreibst du, sie solle kommen.“
Er trat näher heran, er ließ seine Steine klirren - auf einmal ist Joseph fort.
Er hatte sich abgewandt; und der andere, jetzt in Josephs Rücken:
„Du willst nicht? Wie du meinst. Du hast ja noch Zeit, drüber nachzudenken ...“
Er lachte wieder.
Im Gegensatz zu anderen seiner Bergmelodramen hat Ramuz sich bei diesem nie festgelegt, woher das Unglück letztlich denn stammt, wieso das Dorf eine Apokalypse erleiden muss. Genau deswegen sei „Die große Angst in den Bergen“ wohl sein bedeutendstes Buch, findet Beatrice von Matt im Nachwort. Werden wir Zeugen eines Dominoeffekts? Ließe die Kette des Vermaledeiten sich letztlich sachlich erklären, wenn man alle Details wüsste? Immerhin stirbt das Vieh auf der Alm nicht am bösen Blick, sondern an Maul- und Klauenseuche! Oder hängt es an der Verdorbenheit der Bauern? Der undurchschaubare Clou zum Beispiel strolcht auf seiner Suche nach Gold lieber über die Pässe, als den anfangs verängstigten, dann apathischen Almhirten beizustehen mit seinem Wissen. Ist die Tragödie am Berg vielleicht ein dramaturgischer Hintergrund für die traurige Liebesgeschichte von Victorine und Joseph? Oder war es Ramuz um einen sich allmählich verfinsternden Horrorroman zu tun, in dem Ahnungslose eine Flasche aufmachen, aus der Satan schlüpft, um sie zu verschlingen?
Somit wären wir eigentlich schon bei Stephen King. Ich möchte raten: Wer King liest, kann das hier genauso gut lesen. Ist ebenso effektiv erzählt und dazu viel kürzer im Umfang.
[*] Diese Rezension schrieb: KlausMattes (2015-07-25)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.