Ein wirklich mutiger Debütroman, den die 1986 in Meran geborene Germanistin hier vorlegt. Denn es ist ein sehr intimes, persönliches Thema, auch wenn es natürlich um Andrea und Georg geht, die Protagonisten ihres Erstlings.
Beziehungsroman als Romandebüt
In einer einfachen, aber präzisen Sprache erzählt die Autorin in der Du-Perspektive von Andrea an ihren Freund Georg. Beide, zwei Mitdreißiger, die sich Gedanken über ihre Zukunft machen. Einen eigenen Weg einschlagen, oder den, den alle gehen? Georg hat einen guten Job und trägt nicht mehr die Punk-T-Shirts von früher. Er verdient gutes Geld dabei und möchte sein Leben endlich einlochen, Nägel mit Köpfen machen. Also „Verantwortung übernehmen“, Familie gründen, Kinder aufziehen und: gemeinsam alt werden. Das was halt alle wollen. Alle? Nun, Andrea ist sich da nicht so sicher. Ihr gehen die gemeinsamen Urlaube in Jesolo schon langsam auf die Nerven und sie möchte eigentlich ausbrechen aus den Beziehungsgewohnheiten und Ritualen. Sie weiß genau, dass Georg wieder stundenlang in Jesolo umherirren wird, auf der Suche nach einem anderen Restaurant und dann doch wieder dieselbe Pizza Diavolo bestellen wird. Sie kennt ihren Georg schon gut, allzu gut. Aber sie liebt ihn ja auch. Noch?
Schicksal und Ausbruch
Raich beschreibt den Beziehungsalltag ihres Protagonistenpaares detailliert und minutiös und auch den sozialen Hintergrund der beiden, dabei richtet Andrea ihre Gedanken stets an Georg, ohne sie freilich auszusprechen. Während Georg aus ordentlichen, bürgerlichen Verhältnissen stammt, kommt Andrea aus einer sog. zerrütteten Familie. Zudem sind die beiden eigentlich schon seit 16 ein Paar und Andrea stellt sich oft vor, wie es wäre wenn sie nicht mehr zusammen wären. Als sich Georgs Eltern mit ihrem Enkelwunsch in die Beziehung der beiden einmischen, bleibt Andrea nur mehr [ein Ausbruchsversuch. Kurz darauf ist sie schwanger und bald darauf auf Linie mit Georg und seinen Eltern. Sie fügt sich in ihr Schicksal, beschreibt die Monate ihrer Schwangerschaft wie einen Countdown, der immer schneller zählt, je näher das große Ereignis rückt, das Wunder der Geburt. Natürlich geht ihr dabei der ganze Schwangerschaftszirkus mächtig auf die Nerven, genauso wie ihr Georg zuvor auf die Nerven ging. Ob das Glücksversprechen von Familie und Mutterschaft halten wird? Oder wird sie ihm gar ein Kuckucksei legen? Schön jedenfalls, dass eine Frau ihrer biologischen Funktion nicht nachkommen will, sondern auch eigene Bedürfnisse hat und diese stellvertretend für alle artikuliert. Denn ist es nicht vielen Frauen schon so ergangen wie Andrea?
Tanja Raich hat einen einfühlsamen, mutigen Beziehungsroman geschrieben, in einer klaren, deutlichen Sprache, über Dinge, die man sonst nicht spricht. Fast möchte man schon sagen lakonisch. Ihre Hauptsätze wirken wie ein Rhythmus. Der Herzschlag einer unaufgeregten Frau, die ihr Schicksal kommen sieht, ohne etwas dagegen zu unternehmen. Außer einer kleinen, süßen Rache. Aber oft werden Ausbruchversuche nur auf die lange Bank geschoben. Und kommen dann doch. Unweigerlich. Meistens dann, wenn die gemeinsamen Kinder endlich erwachsen sind.
Tanja Raich
Jesolo. Roman
2021, Taschenbuch, Broschur, 224 Seiten, 11,8 x 18,7 cm
ISBN: 978-3-453-42414-2
€ 10,30 [A] | CHF 14,50 10,00 [D]
Heyne Verlag
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2021-11-18)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.