Julya Rabinowich, 1970 in St. Petersburg geboren und 1977 mit ihrer Familie nach Wien geflüchtet, wurde dort schon mit ihrem Debüt „Spaltkopf“ von der Kritik gefeiert und mit Preisen überhäuft. Auch ihr zweites Buch „Herznovelle“, einer immer wieder von Traumsequenzen und lyrischen Passagen unterbrochenen Erzählung, die nicht anderes tut, als in dramatischen Worten die große Sehnsucht zu formulieren nach einem glücklichen und sinnvollen Leben vor dem Tod, wurde sehr gelobt, auch wenn es etliche eher abfällige Kritiken gab, die die Novelle mit einem literarisch etwas höherwertigen Arztroman verglichen haben.
Diesen Kritikern antwortet sie an einer Stelle in ihrem neuen hier vorliegenden Roman „Die Erdfresserin“, der die Geschichte einer jungen, sehr gebildeten Frau aus der ehemaligen Sowjet erzählt, die ihre Heimat verlässt, um im Westen in Österreich als Sexarbeiterin Geld für ihre Familien zu Hause zu verdienen und sich selbst solange ausbeutet, bis sie zusammenbricht.
„Ich will nicht schon wieder als Spiegel herhalten müssen“, lässt sie ihre Ich-Erzählerin Diana sagen. „Das ist etwas, das den Einheimischen scheinbar sehr wichtig ist - diese vielen, drängenden Fremden erst gehörig abzuwerten, sich dann aber von einer seltsamen, fast masochistischen Regung mit Lust von ihnen beobachten und erklären zu lassen, sich in dem Blick des zuvor Erniedrigten zu sonnen und sich vermutlich besser und heiler zu fühlen, als sichere, bequeme Bewohner eines sicheren, bequemen Landes, das mit Neid belagert wird, um es irgendwann doch noch zu besetzen. Das bedeutet, dass auch dieser illustrative Blick nur kurz geduldet wird, bevor er aus besagten Sicherheitsgründen wieder abgewehrt werden muss und die Entwertung weitergehen kann.“
Mit einer reichen und poetischen Sprache lässt Julya Rabinowich ihre Hauptfigur ihre Geschichte erzählen, hin- und hergerissen zwischen ihren Träumen (sie würde gerne ihrem Studium entsprechend als Regisseurin arbeiten, liebt Shakespeare und hat immer eine Ausgabe von Dostojewskis „Idiot“ bei sich) und der nackten Notwendigkeit für ihren behinderten Sohn zu Hause und den Rest der Familie Geld beizuschaffen für Medikamente und Nahrung, beutet sie sich selbst aus und lässt sich ausbeuten bis zum tragischen Zusammenbruch, den die Autorin eindringlich beschreibt.
Auch ein Ausweg, der sich zwischenzeitlich auftut, als sie in Wien den abergläubischen und schwerkranken Polizisten Leo trifft, zeigt sich als Sackgasse.
Julya Rabinowich hat in ihren verschiedenen beruflichen Tätigkeiten, bevor sie zu schreiben begann, viele solcher Dianas getroffen. Und obwohl sie sich selbst nie als ein Flüchtling gefühlt hat in Österreich, ist ihre Identifikation und Solidarität mit Menschen wie Diana hoch.
So einen Schluss kann so dicht und überzeugend nur schreiben, wer selbst fürchtet, die Bürde der Fremden im eigenen Land irgendwann nicht mehr tragen zu können (vgl. das Zitat oben.)
Ein poetischer und gleichwohl politischer Roman, der seinen Leser vermittelt, wie sich die „Festung Europa“ von außen anfühlt.
Julya Rabinowich, Die Erdfresserin, Deuticke 2012, ISBN 978-3-552-06195-8
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2013-06-01)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.