„Ma non devi scrivere un `Proust´“, sagte mein ergrauter Mitreisender einmal in einem Zugab teil zu einem jungen Mädchen, das schon die ganze Fahrt über mit dem Verfassen von sms an ihren Freund beschäftigt war. Die Reise von Italien nach Frankreich in einem Zugabteil hatte mir gezeigt, wie sehr „Proust“ schon in der Alltagssprache der Menschen aus romanischen Ländern verbreitet war. In dem vorliegenden Kontext der Anekdote war Proust vor allem ein Synonym für viele, lange Worte und Sätze, aber wohl kein einziges Wort davon wäre überflüssig, denn Legende sind nicht nur Prousts Glücksmomente beim Eintauchen einer Madeleine in einen Lindenblütentee, sondern auch seine Art, die Dinge zu erzählen, ohne dabei auch nur das winzigste Detail zu vergessen.
„Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Es hatte mir mit einem Schlag, wie die Liebe, die Wechselfälle des Lebens gleichgültig werden lassen, seine Katastrophen ungefährlich, seine Kürze imaginär, und es erfüllte mich mit einer köstlichen Essenz; oder vielmehr: diese Essenz war nicht in mir, ich war sie selbst. (…) Ich muss aufhören, denn die geheime Kraft des Trankes scheint nachzulassen. Es ist ganz offenbar, dass die Wahrheit, die ich suche, nicht in ihm ist, sondern in mir. Er (der Trank, JW) hat sie dort geweckt, kennt sie aber nicht und kann nur auf unbestimmte Zeit und mit ständig schwindender Stärke seine Aussage wiederholen, die ich gleichwohl nicht zu deuten weiß und die ich wenigstens wieder von neuem aus ihm herausfragen und unverfälscht etwas später zu meiner Verfügung haben möchte, um eine entscheidende Erleuchtung daraus zu schöpfen. Ich stelle die Tasse ab und wende mich meinem Geist zu. Er muss die Wahrheit finden“, heißt es in einer der älteren (Frankfurter) Übersetzungen des Klassikers der französischen Literatur schlechthin. Aber nun legt der Stuttgarter Reclam Verlag eine neue Übersetzung vor und endlich kann man Proust in einer entschlackten, mit weniger 50er-Jahre-Referenzen, lesen. Endlich wird das Werk so auch jüngeren Leser zugänglich gemacht
Der erste Band mit dem Titel „Auf dem Weg zu Swann“ in der Neuübersetzung von Bernd-Jürgen Fischer fasst 694 Seiten und wird 2014 mit zwei weiteren Bänden vervollständigt. „A la recherche du temps perdu“ besteht aus sechs Kapiteln (In Swanns Welt, Im Schatten junger Mädchenblüte, Die Welt der Guermantes, Sodom und Gomorra, Die Gefangene, Die Entflohene, Die wiedergefundene Zeit) und fasste in der bisherigen Taschenbuchausgabe mehr als 3000 Seiten. Der Reclamverlag veröffentlicht eine gebundene Ausgabe, was wohl als ein würdiger Auftakt zur Neuveröffentlichung des zwischen 1908/09 und 1922 geschriebenen Jahrhundertromans bezeichnet werden kann.
Prousts Roman gilt nicht nur als Sittengemälde einer untergegangenen Epoche, die als Belle Époque in die Geschichte einging, sondern auch als ein Schlüsselroman der frivolen Pariser Oberschicht der vorletzten Jahrhundertwende. Marcel Proust aht sich jedes Einzelne seiner Wörter genau überlegt, das zeigen auch die in der vorliegenden Übersetzung Texterläuterungen, die mit einem notwendigen Anmerkungsapparat ausgestattet sind, der jene historischen und kulturhistorischen Informationen enthält, die der heutige moderne - womöglich jugendlichere -Leser erwartet.
Marcel Proust
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Band 1: Auf dem Weg zu Swann
Neuübersetzung
Übers.: Fischer, Bernd-Jürgen
Reclam Bibliothek. Leinen mit Schutzumschlag, Fadenheftung, Kapital- und Leseband. Format 12 x 19 cm. 694 S.
ISBN: 978-3-15-010900-7
EUR (D): 29,95
EUR (A) 30,80 / CHF 40,90
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2013-10-12)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.