Über meinem Schreibtisch hängt das Filmplakat von „Brokeback Mountain“. Meine Augen lösen sich gelegentlich vom Monitor und ruhen auf dem Plakat. Da lese ich unter anderem: nach der Kurzgeschichte von Annie Proulx. Erst dieser Film hat sie bei uns bekannter gemacht, in den USA ist sie schon länger erfolgreich. Sie hat Romane und Erzählbände veröffentlicht und wichtige Preise bekommen.
Sie kommt aus Neuengland (geboren 1935), hat Vorfahren in Kanada und lange als Journalistin und Sachbuchautorin gearbeitet. Erst ab Mitte der Achtziger schrieb sie Belletristik. Seit 1995 lebt sie im Westen der USA (Denver und Wyoming). Sie wurde und wird als der „weibliche Hemingway“ vermarktet. Womit man ihr Unrecht tut: Sie selbst und ihr Werk stehen auf eigenen Füßen. Richtig ist nur: Auch sie lässt sich intensiv auf raue, ungeschminkte Wirklichkeit ein.
Zuerst las ich den Sammelband „Brokeback Mountain“. Er war schon 2001 unter dem Titel „Weit draußen“ in deutscher Übersetzung erschienen und wurde nach dem Filmerfolg bei Neuauflage umbenannt. Alle elf Geschichten spielen in Wyoming. Zartbesaitete seien vor der Lektüre gewarnt: Dieser Westen ist das Gegenteil einer Idylle. Eine großartige, feindselige Landschaft, ein unverträgliches Klima, schwieriger Broterwerb, aktuelle Strukturprobleme und mitten darin zugespitzte Charaktere – das ist die Welt von Annie Proulx. Sie liebt vor allem Männer, die auf spektakuläre Weise scheitern, nachdem sie sich lange an allem gerieben haben.
In „Der halbgehäutete Ochse“ ist es ein alter Mann, der nach dem Tod seines Bruders erstmals nach Jahrzehnten wieder nach Hause fährt. Die lange Fahrt von der Ostküste nach Wyoming wird für ihn zu einer zunehmend chaotischeren Reise in die Vergangenheit. Und auf den letzten paar Meilen gerät er in eine tödliche Falle, die er sich selbst gestellt hat.
Dann in „Tief im Schlamm“ das glanzlose Elend der Rodeos, dargestellt an einem Einzelschicksal, eine überzeugende Sozial- und Charakterstudie. Oder die unverdrossene Berufsodyssee eines typischen modernen Westlers, von Pleite zu Pleite, garniert mit weiteren Katastrophen („Lebenslauf“). Das großartige „In der Hölle will man nur ein Glas Wasser“ sollten sie nur lesen, wenn sie sich vollkommen stabil fühlen … „Ein Paar Sporen“ entpuppt sich als verhextes Teufelzeug. Um radikal-ökologischen Fundamentalismus bis zum bitteren Ende geht es in „Die Gouverneure von Wyoming“. Und in den Gegenspielern der Hauptfigur erkenne ich hier einmal Figuren, die nicht zwangsläufig scheitern müssen.
Wer die Erzählung „Brokeback Mountain“ liest und den Film noch vor sich sieht, wird weitere Aufschlüsse erhalten. Was treibt Ennis am Ende des Films mit diesen beiden Hemden? Jetzt weiß ich es. Noch mehr Hintergrundinformationen bekommt man durch Proulx’ Aufsatz „Verfilmt werden“, mit dem der Band schließt. Bei seiner Lektüre lernt man diese sympathische ältere Dame selbst ein wenig kennen.
Man kann auch mit ihrem ersten Erzählband „Herzenslieder“ beginnen. Er spiegelt auf ähnliche Weise das ländliche Neuengland und einige seiner Originale wider. Doch genug für heute und den Anfang.
[*] Diese Rezension schrieb: Arno Abendschön (2010-11-01)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.