Der Schwerpunkt dieser Werkausgabe liege auf den „philologisch kritischen Repräsentationen des zu Lebzeiten des Dichters in eigenständigen Publikationen gedruckten Werks der Reifezeit“ schreiben die beiden Herausgeber. Alle Sammlungen von Gedichten und Prosaschriften, die seit dem Herbst 1899 entstanden wurden in die Ausgabe aufgenommen, außer „Worpswede“ und „Das Marien-Leben“. Die Textzusammenstellungen werden ungekürzt und in der authentischen Gestalt des Erstdrucks der endgültigen Fassung wiedergegeben. Die zu Lebzeiten des Dichters nicht herausgegebenen „Briefe des jungen Arbeiters“ werden ebenso wiedergegeben wie die „Verstreuten Gedichte und Prosa“. Authentizität wird also groß geschrieben, denn von Modernisierungen der Orthographie oder Interpunktion wurde dankenswerterweise abgesehen. Lustigerweise stellten die Herausgeber aber fest, dass Rilke in allen von ihm selbsthergestellten Manuskripten konsequent eine Schreibung von `ss´ und `ß´ unterschied, „die genau den gültigen Regeln der Orthographie entspricht“.
Im hinteren Teil des Buches (Anhang) finden sich zu sehr vielen Textstellen Rilkes auch fundierte Kommentare, die Auskünfte über die Entstehungsgeschichte geben oder ganz einfach Erklärungen zu Begriffen geben, die Rilke verwendet. Erläuterungen und Übersetzungsvarianten werden ebenso angeboten wie ausführliche editorische Notizen. „Die Sich-Verlierenden lässt alles los,/und sie sind preisgegeben von den Vätern/und ausgeschlossen aus der Mütter Schoß.“, schreibt RMR in „Der Ölbaum-Garten“, aber auch: „Später erzählte man: ein Engel kam-.“. Rainer Maria Rilke zu lesen ist immer auch eine Reise in das Unbekannte, Überraschende und Unerwartete. Denn selbst wenn er sich manchmal auf Alltägliches oder Altbekanntes bezieht, trotzt er den Geschichten immer wieder neue Interpretationen und Perspektiven ab. So auch in der Geschichte zum Verlorenen Sohn, die sich zwar eindeutig auf die Bibelstelle Lukas15,11-32 bezieht, ihr dann aber eine ganz eigene gegensätzliche Auffassung zur Eltern- und Gottesliebe abringt. „In der Zeit, da seine ganze Natur unermesslich danach begehrte zu lieben, sah er schmerzlich ein, dass der Gegenstand seiner Liebe nicht finden würde, solange er gegen die, die ihn zu lieben meinten, empfänglich und nachgiebig war“, kommentierte RMR selbst seine „Geschichte vom Verlorenen Sohn“.
Neben den Sonetten an Orpheus finden sich auch die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und die Duineser Elegien sowie viele weitere Gedichte und Prosa Rilkes in dieser kompakten Ausgabe des Reclam Verlages.
Annemarie Post-Martens und Gunter Martens (Hrsg.)
Rainer Maria Rilke
Gesammelte Werke
Gebunden, Schutzumschlag, 1005 Seiten
2015, Reclam Bibliothek
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2015-07-14)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.