Wir schreiben derzeit das Jahr 2014. Vor einhundert Jahren begann der Erste Weltkrieg und schon in den ersten drei Monaten des Jahres ist die Fülle von Publikationen zu diesem Thema kaum mehr zu überblicken.
Der in München lebende Schriftsteller und Drehbuchautor Christoph Poschenrieder hat mit seinen beiden ersten Büchern „Die Welt ist im Kopf“ über den jungen Schopenhauer und „Der Spiegelkasten“, wo es auch um die Aktualität der Ereignisse der Ersten Weltkriegs ging, gezeigt, wie er auf eine bewundernswerte Weise historische Ereignisse, die er aufwändig und sauber recherchiert verbindet mit nicht weniger sorgfältig recherchierten Biographien ausgesuchter Personen.
In seinem neuen Roman „Das Sandkorn“ erzählt er von der Geschichte des deutschen Kunsthistorikers Jacob Tolmeyn, der wegen seiner Homosexualität von einem ehemaligen Lover erpresst wird und auch deshalb vor dem preußischen Militarismus der Kaiserzeit nach Rom flüchtet, wo er im Deutschen Archäologischen Institut angestellt und von dort aus mit Expeditionen nach Apulien geschickt wird. Dort soll er zusammen mit seinem Assistenten Beat aus der Schweiz, der schon bei der Schweizergarde des Vatikans gedient hat, die Spuren und Bauten des in Apulien immer noch beliebten Stauferkönigs Friedrich II. ausfindig machen.
Zunächst erfahren diese Forschungen nicht nur die volle Unterstützung seines Chefs Stammschröer, sondern sie erhalten auch allerhöchste Protektion aus dem kaiserlichen Berlin. Beim besten Fotografen Berlins muss Tolmeyn einen Kurs absolvieren und kann sich nur mit Mühe seinem Erpresser entziehen. Nach Rom zurückgekehrt, werden die Bedingungen für die Expeditionen, die nun auch mit vielen Fotos dokumentiert werden, schwieriger. Erst recht, als der Krieg beginnt und auch die politische Unterstützung in Italien schwindet. Jacob Tolmeyn und Beat bekommen mit Letizia eine Aufpasserin zur Seite gestellt, von der sich herausstellt, dass sie mehr an gesellschaftlichen Fragen vor allem der der Frauenemanzipation interessiert ist, als an Kunstgeschichte.
Alle drei so unterschiedliche Menschen, die Poschenrieder da zusammenführt verbindet die leidenschaftliche Suche nach einem anderen Leben, ein Leben, das damals aus der Zeit fiel und das nicht von Vorurteilen sich bestimmen lassen will.
Und dann ist da noch eine vierte Hauptfigur, der Berliner Kommissar Franz von Treptow, der die ganze Geschichte aus seiner Warte aufgeschrieben hat, nachdem Jacob Tolmeyn, 1915 nach Berlin zurückgekehrt, dort aufgefallen und verhaftet worden ist, weil er , seltsame Worte murmelnd, durch Berlin geht und an verschiedenen Stellen Sand ausstreut.
In langen Verhören erfährt er Tolmeyns Geschichte und notiert sie. Seine Notizen lässt Poschenrieder sich abwechseln mit langen und ausführlichen Berichten über die vielen Reisen und Stationen, die Jacob, Beat und Letizia in Apulien unternommen haben.
Obwohl reine literarische Kunstfiguren, hat Christoph Poschenrieder sich mit seiner Geschichte von Jacob und Beat inspirieren lassen von der von Arthur Haseloff und Martin Wackernagel, die zwischen 1904 und 1908 eine möglichst lückenlose Bestandsaufnahme der Bauten aus der Zeit Friedrichs II. (1194-1250) machten. Er hat sie in Zeit vor und nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs verlegt. Der Kommissar Franz von Treptow hat sein historisches Vorbild in Hans von Tresckow, der sich vorsichtig für die Abschaffung des § 175 einsetzte und aus dessen Lebenserinnerungen Poschenrieder immer wieder zitiert.
„Das Sandkorn“ ist ein spannender und auch anspruchsvoller Roman. Er bewegt sich in mehreren Genres und verbindet sie auf geniale Weise. Er ist ein historischer Roman, er handelt von Liebe und Toleranz, er besitzt Aspekte eines Krimis und er ist durch und durch antimilitaristisch.
Christoph Poschenrieder, Das Sandkorn, Diogenes 2014, ISBN 978-3-257-06886-3
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2014-04-22)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.