„Lenin lebte, Lenin lebt, Lenin wird leben!“ - so dichtete einst der Parolenpoet und Selbstmörder Majakowskij gegen die Naturgesetze an. Doch ungeachtet der großen Worte ist Lenin (auch als Idee) inzwischen genauso tot wie der Kommunismus - und mit ihm Millionen Menschen, die er auf seine Schlachtbank führte. Nicht tot ist das Denken, sind die Fragen, welche die Geschichte des Kommunismus aufwirft. Das beweist nicht zuletzt die Menge an Neuerscheinungen zum Thema, sei es Tristram Hunts erhellende Engels-Biographie, David Priestlands ambitionierte Übersichtsdarstellung der kommunistischen Bewegungen in aller Welt, Robert Services Trotzki-Biographie oder Vladislav Zuboks "Zhivago´s children", das sich mit den heranwachsenden Intellektuellen der Sowjetgeneration der 1950er Jahre befasst. Philip Pomper, Geschichtsprofessor an der Wesleyan University (Middletown, Connecticut), versucht mit "Lenin´s Brother" ein weiteres Detail der Vergangenheit, die für uns Nachgeborene immer nur ein relatives Dunkel sein kann, zu beleuchten.
Pomper forscht in seiner Monographie Lenins Bruder Alexander Ulyanov, genannt Sascha, nach, der im Frühjahr 1887 als hoffnungsgebender Student in einen Mordanschlagsversuch auf den Zaren Alexander III. verwickelt ist und wenig später aufgrund eben dieser Verwicklung gehängt wird. Es ist ein kurzes und uns wenig verständliches Leben, das Sascha geführt hat: Nach gerade 21 Jahren ist es schon zu Ende; und so begegnet er einem in den Fotografien des Buches als junger, attraktiver Mann, der vor allem durch sein regungsloses Gesicht auffällt. Wie sein Bruder Vladimir, der etwa 30 Jahre nach der Hinrichtung der Verschwörer Weltgeschichte schreibt, war Alexander prämierter Jahrgangsbester seiner Schule in Simbirsk. Er studierte in Petersburg Naturwissenschaften und erhielt dort wieder einen Preis für seine Leistungen. Aber was für ein Mensch verbarg sich hinter diesem Ehrgeizling?
Die Quellen, aus denen Pomper sein Licht schöpft, sind nicht üppig. Unter anderem bestehen sie aus den Memoiren der Schwester Anna und von Orest Govorukhin (einem Mitverschwörer, der sich rechtzeitig ins Ausland absetzen konnte), den Ulyanov-Familienarchiven des RGASPI, den Stenogrammen des Prozesses gegen die Verschwörer im OPPS. Von Sascha selbst sind nur wenige, meist förmliche Briefe erhalten, die kaum echten Einblick in seine Persönlichkeit gewähren. Und so müssen sich Pomper wie der Leser mit dem spärlichen begnügen. Ausgeschmückt wird es durch die Schilderung der gesellschaftlichen Umstände im zaristischen Russland zur Zeit Saschas, sowie der ideologischen Strömungen, zu deren Treibgut und -kräften Denker wie Dobrolyubov, Chernychevsky, Lavrov gehörten und die wohl auch Sascha, wie Pomper nachzuweisen sucht, beeinflussten. Die Leibeigenschaft ist aufgehoben, Zarentum und Polizeistaat jedoch walten. Wer die Verhältnisse sofort umstürzen will, begreift sich als Nihilist und wirft Bomben. So starb auch Zar Alexander II. im Jahre 1881 bei einem Attentat, ausgeführt von jungen Menschen.
Pomper verspricht uns im Untertitel seiner Monographie, dass sie die Ursprünge der Oktoberrevolution aufdecken könnte. Ob ihr das geglückt ist, bleibt zweifelhaft. Natürlich gibt es die erstaunliche Parallele: Sascha versucht als Mitglied einer Verschwörung den Zaren zu ermorden, der Bruder Volodya schickt später die ganze Sippe in die Hölle - und auch den Ausspruch, demzufolge Lenin glaubte, dass sein Bruder nur aus einer zwingenden Notwendigkeit heraus gehandelt haben konnte, aber sein Blut doch zu leichtfertig hingab. Aber was steckt hinter dem vermuteten Dahinter? Hier scheint es kaum andere Wege als die der Spekulation geben zu können. Drängt sich nicht die Frage nach dem früh verstorbenen, umtriebigen Pädagogenvater Ilya Ulyanov auf? Hat er doch ganz maßgeblichen Anteil an der Erziehung und Entwicklung seiner Söhne - dass sie anscheinend keine unkonditionierte Zuwendung kannten und deswegen in der Sehnsucht nach Anerkennung in der Schule brillierten, also im Erbringen von fremddefinierten Leistungen ihr Lebensglück suchten und sich dann ganz verrannten? War der vereitelte Mordanschlag auf Alexander III. nicht die wie zu einer Explosion komprimierte und vorwegnehmende Fassung der jahrzehntelangen Leninschen Raserei gegen alle, die nicht mit ihm waren, waren beide Wege nicht eigentlich --- verschobener Mord am allmächtig scheinenden, strengen Vater, von dem Pomper schreibt: "Ilya rarely praised the children and expected them to apply themselves dutifully and rigorously to their schoolwork."?
Bleiben schließlich nur die weiblich-versöhnenden Worte der treuen Schwester Anna:
"Now, as I look back at our childhood, I think that it would have been better for us {children} if this generally applied pedagogical line {"not to shower the children with praise"} had been administered less strictly.".
Philip Pomper
Lenin´s Brother
New York + London, 2010
ISBN 978-0-393-07079-8
[*] Diese Rezension schrieb: Arne-Wigand Baganz (2010-03-05)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.