Bei der Buchpräsentation in der Wiener Hauptbibliothek am Gürtel liest ein bescheiden wirkender Martin Pollack aus seinem neuen Werk, das sich mit der Flucht von Juden aus Galizien Richtung Amerika beschäftigt. Er hat dabei wohl bewusst das Kapitel ausgewählt, in dem auch von Auschwitz die Rede ist, auf Polnisch Oswiecim, und erzählt die Geschichte dieser Ortschaft neu. Sie war nämlich schon vor dem Holocaust ein bekannter Verkehrsknotenpunkt, nicht für die Massenvernichtung, aber für die Ausreise Richtung goldener Westen, den gab es nämlich damals auch schon. Martin Pollack verwendet bei seiner Lesung wohl ebenso absichtlich die polnische Bezeichnung Oswiecim für Auschwitz, was eine der zahlreich erschienenen BesucherInnen empört. Auch andere Zuhörer sind bestrebt ihre eigenen Biographie einzubringen, statt den beiden am Podium sitzenden Kapazitäten Fragen zu stellen. Der Zsolnay Verlag hatte nämlich als Diskussionsleiter und Mediator keinen Geringeren als Rainer Münz, den im deutschen Sprachraum durchaus berühmten, Demographen eingeladen und Pollack an die Seite gesetzt. Ersterer stiehlt letzterem fast die Show, aber vor allem aufgrund der Bescheidenheit Pollacks, der sich eigentlich auf seine Lesung als Beitrag zur Diskussion beschränkt. Münz hingegen glänzt mit interessanten Ausführungen und Ergänzungen, die einen neugierig machen auf mehr.
So kontroversiell wie die Buchpräsentation, wird wohl auch das Buch selbst im deutschen Sprachraum aufgenommen werden. Vielen Menschen seien damals zur Auswanderung geradezu verführt worden, schreibt Pollack, man könnte es fast als Propaganda bezeichnen mit der das Produkt „Amerika“ bei den armen Leuten im Osten verkauft wurde. Es ersetzte dabei fast die Heilserwartung des Jenseits`, gewissermaßen eine Eschatologie der Auswanderung, so könnte man die Ausreise zur Jahrhundertwende wohl bezeichnen. Galizien war damals Teil der Habsburgermonarchie und als solcher das Armenhaus der Monarchie. Kleinbauern, Handwerker, Wanderhändler, „Luftmenschen“ konnten der Verheißung Amerika nicht widerstehen und glaubten, der „Kaiser von Amerika“ würde schon für sie sorgen, wären sie erst einmal dort, im gelobten Land, angelangt. Die Auswanderung wurde bald zu einem einträglichen Geschäft. Und genau das macht die Studie von Pollack so interessant und aktuell: auch heute wird die Emigration als Geschäft betrieben, an dem sich die so genannten „Menschenschmuggler“ eine goldene Nase verdienen. Sei es an der mexikanisch-amerikanischen Grenze oder im Süden Europas, auf Lampedusa oder in Spanien, Containerladungen von Menschen werden angeschifft und einige verdienen damit Millionen, ganz egal, ob ihr Schmugglergut „lebend“ oder „lebendig begraben“ ankommt.
„Oswiecim, Auschwitz, Oschpitzin“ heißt ein Kapitel in Pollacks Buch, die die Geschichte russischer Juden erzählt. Oschpitzin, wie sie es nennen, entwickelt sich dank seiner Lage zu „einem wichtigen Sammelzentrum und Umschlagplatz für die große Wanderung von Osten nach Westen“. Hier kreuzen sich auch die Wege der Arbeitswanderer aus Polen, der Ukraine mit jenen der Überseeauswanderer. Ausgerechnet Liköre werden zum Exportgut Nummer ! dieser ehemals wohlhabenden Stadt, aber das zweite wirtschaftliche Standbein bilden schon die Auswanderer. Die Atlantiklinien Hapag und Lloyd stoßen in dieser ärmlichen Umgebung auf eine Goldader: die Auswanderer. Doch oft werden diese auch wieder zurückgeschickt und verursachen dann im Heimathafen Probleme, die umgangssprachlich „dzuma amerykanska“ (amerikanische Pest) genannten Rückwanderer werden bald zu einer Belastung der Behörden. So kommt es bald zu einer Schattenwirtschaft: „Offizielle Agenten fungieren gleichzeitig als Schlepper, illegale Subagenten treiben den offiziellen Agenturen mit unerlaubten Mitteln, nicht selten mit Gewalt, Kunden zu.“
Abgesehen von der Aktualität von Pollacks Buch, ist es auch noch sehr unterhaltsam geschrieben. „Er berichtet von den ewigen Verlierern, die ein besseres Leben suchen und den ewigen Gewinnern, die aus der Not anderer Profit schlagen“, schreibt der Verlag diesmal pointiert. Das Buch ist zudem mit S/W Fotos illustriert und beruht auf Aktenmaterial des Staatsarchivs in Krakau.
Martin Pollack
Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien.
Zsolnay
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2010-10-19)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.