Rotes Wien. Gehen, Sehen & Genießen. 5 Routen zu gebauten Experimenten. Vom Karl- Marx-Hof bis zur Werkbundsiedlung
„Besuchen Sie das Rote Wien, solange es es noch gibt!“ mögen dieser Tage die Auguren in Anlehnung an einen Slogan einer US-amerikanischen Reiseagentur, die in Zeiten der Blockkonfrontation der 80er ihren Klienten riet Europa noch zu besuchen, solange es überhaupt noch steht, unken. Denn nach den Wahlen 2015 wird Wien vielleicht keine rote Mehrheit im Rathaus mehr haben, aber dennoch wird es das Rote Wien noch geben: die Wohnbauten, die in den Jahren 1919 bis 1934 entstanden und von denen der Karl-Marx-Hof nur der bekannteste ist, zeugen von einer reichen und langen Vergangenheit des „Sozialismus in einer Stadt“, einem Gegenmodell gegen den durchwegs konservativen, bäuerlichen und vor allem deutschnationalen Rest des Landes. Das war wohlgemerkt in der Zwischenkriegszeit, heute ist das natürlich alles ganz anders.
Schwimmen und Saunen für jedermann
Der Falter CITYwalks weist den Weg zu den wichtigsten Bauwerken und Sehenswürdigkeiten, die in jener Epoche in Wien entstanden sind, dazu gehörte neben dem kommunalen Wohnbau, den Gemeindebauten, auch Gebäude für Arbeit und Verwaltung, Verkehr, Freizeit und Sport. Auf den insgesamt fünf Routen, die die Autorin durch die Wiener Stadt legt, wird aber auch für das leibliche Wohl gesorgt, denn neben dem thematischen Hauptstrang Rotes Wien werden auch Einkehrmöglichkeiten in Cafés, Lokalen und Geschäften angeboten, die sich auch auf die Flaneure durchaus „er-röt-end“ auswirken könnten. Dabei denke ich nicht unbedingt an den Eissalon Tichy auf der Favoritentour, sondern vor allem an die Kantine des Amalienbads, wo man sich auch gut für die Fortsetzung des Spaziergangs stärken kann.
Fließend Wasser für alle
In fünf Karten und mit mehr als 150 Fotos wird dem Besucher mit diesem Reiseführer der besonderen Art das Wien der sozialdemokratischen Reformer gezeigt, die brav im Eingangsessay auch alle durch die Bank vorgestellt werden. Zumindest Hugo Breitner möchte ich hier erwähnen, weil er durch die Wohnbausteuer die vielen Ideen der ganzen anderen Reformer überhaupt erst ermöglichte. Als „Finanzminister“ der Stadt (Stadtrat für Finanz) konnte er das Geld bei denen holen, die es hatten, und denen geben, die es brauchten. So wurde eine menschliche Stadt geschaffen, die es auch den Armen ermöglichte, einen menschenwürdiges Dasein mit fließend Wasser (oft nur am Gang) zu führen. Die Miete für eine Gemeindewohnung mit fließend Wasser und in durchschnittlicher Größe betrug damals vier Prozent eines Arbeitermindestlohns, weiß die Autorin, eine Vorstellung von der man heute wirklich nur mehr träumen kann, aber nur mit geschlossenen Augen bitte.
Das soziale Experiment
Viele Errungenschaften der modernen Technik wurden überhaupt erst dadurch der breiten Masse zugänglich, weil die Sozialdemokraten es sich zum Ziel gesetzt hatten, ein soziales Experiment zum Erfolg zu führen: würde es in Wien klappen, dann wäre auch bald das ganze Land „rot“ oder eben zumindest „er-röt-et“. „Der Einfluss der Partei ging über Gesundheitsvorsorge- und Fürsorgeeinrichtungen, Lebensstil und Verhaltensempfehlungen bis in die Familien hinein“, schreibt die Autorin und selbst ein sozialistischer Festkalender begleitete die ProletarierInnen durch’s Kalenderjahr, ganz so, wie es die Katholiken mit ihren christlichen Feiertagen auch hatten. Ein eigenes Kapitel ist auch einem Spaziergang in der Werkbundsiedlung gewidmet, die Anfang Dreißiger entstanden war. „Sie war ein Versuch, angesichts zunehmend als allzu doktrinär empfundenen internationalen Funktionalismus eine österreichische Variante der architektonischen Moderne zu formulieren“, so die Autorin. 31 Architekten konnten von Josef Frank für die Werkbundsiedlung gewonnen werden. Ein Besuch lohnt sich.
Inge Podbrecky hat für die Reihe Falter CITYwalks auch die Bücher „Wiener Jugendstil“ und „Wiener Interieuers“ verfasst.
Falter CITYwalks
Inge Podbrecky
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2015-10-10)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.