jemand liest ein buch
jemand betrachtet fotos
jemand erinnert sich an den krieg
jemand schläft jemand geht aus
jemand stirbt in der stille
jemand trinkt wasser
jemand bricht das brot
Janek schreibt den buchstaben A
zeichnet einen ritter mit blauem sporn
jemand startet zum mond
jemand brachte eine rose einen vogel einen fisch
schnee fällt
glocken schlagen
Mars tritt ein
das schwert
erfüllt das zimmer
mit feuer“
Mit diesem Gedicht des polnischen Lyrikers Tadeusz Rozewicz leitet der zu den profiliertesten polnischen Historikern gehörende 1956 geborene Jan M. Piskorski sein großes Werk über die „Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts“ ein. Schon vor dem Ersten Weltkrieg begannen Menschen zwangsweise aus ihren angestammten Gebieten zu fliehen, und auch danach hörten diese Flüchtlingsströme und Zwangsvertreibungen mit unzähligen Opfern nicht auf, bis in die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, wo es hauptsächlich durch den Zusammenbruch der kommunistischen Staaten noch einmal zu für nicht mehr möglich gehaltenen Exzessen kam.
Viele der beschriebenen Vertreibungen waren mir bekannt, weil ich mich schon als junger Mensch damit beschäftigt hatte. So etwa die genauen Hintergründe und Schicksale der Menschen herausfinden wollte, die speziell von meiner Mutter (BDM-Mitglied) in den fünfziger Jahren immer abschätzig als „die Flüchtlinge“ bezeichnet wurden, denen man Ausgleichszahlungen für ihr verlorenes Hab und Gut zahlen würde, während sie selbst leer ausginge, wo man doch nur als Mitläufer eingestuft worden sein nach dem Krieg.
Doch von noch mehr Vertreibungen und Unrecht konnte ich in diesem bahnbrechenden Buch lesen, von denen ich bisher nie etwas gehört hatte, obwohl ich seit meiner Jugend mich für Politik und Geschichte interessiere. Etwa den Exodus der Serben 1915 oder das Schicksal der Griechen und Armenier nach der Gründung der Türkei.
Es scheint so zu sein, dass bestimmte historische Ereignisse erst sehr lange, nachdem sie geschehen sind, für eine wissenschaftliche Aufarbeitung reif sind. So etwa dauerte es bis 1985, bis Bundespräsident von Weizsäcker eine damals wichtige Rede zur deutschen Vergangenheit halten konnte, und es dauerte noch länger, bis man ohne den Vorwurf des Revanchismus sich einzuhandeln über das unendliche Leid der nach dem Krieg aus dem Osten vertriebenen Deutschen reden konnte. Ich habe in meiner jetzigen, von der Flucht betroffenen Familie viele dramatische Geschichten gehört, die mir beim Lesen dieses Buches immer wieder präsent waren.
„Die Verjagten“ ist verständlich geschrieben. Es will aufklären und nicht aufrechnen. Eine Fülle von Material im Anhang lädt zur Weiterbeschäftigung ein. Hauptsächlich aber will es mahnen und warnen, denn der Geist, aus dem Vertreibungen stattgefunden haben, ist noch lange nicht gebannt. Nicht nur der Jugoslawienkrieg und seine Folgen haben das gezeigt.
Jan M. Piskorski, Die Verjagten. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts, Siedler 2013, ISBN 978-3-8275-0025-0
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2013-09-02)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.