Vor zwei Jahren hatte der in Tel Aviv lehrende Psychologe Carlo Strenger mit seinem ebenfalls im Jüdischen Verlag erschienenen Buch „Israel. Einführung in ein schwieriges Land“ den gelungenen Versuch gewagt, mit Hilfe der Psychohistorie und mit unzähligen Beobachtungen aus dem Alltag den deutschen Lesern Einsichten zu vermitteln in die auch historisch gewachsene Mentalität des Landes und sich damit jenseits der weltweit eingefahrenen Wahrnehmungen Israels zwischen Dämonisierung und Idealisierung zu verorten.
Strengers mittlerweile in der vierten Auflage vorliegendes Buch ist ein Versuch, der Hoffnung vieler aufgeklärter, universalistisch denkender Menschen Ausdruck zu geben, "dass Israel endlich der Stimme der Vernunft folgen wird". Immer wieder aber beschleicht ihn wie seine Freunde der verzweifelte Gedanken, dass die nationalen Mythen, die er ausführlich beschreibt, so schwer aus dem Köpfen der Menschen herauszubekommen sind. Als einer der schwerwiegendsten identifiziert er den Mythos von Israel als dem auserwählten Volk.
Am Ende bleibt er skeptisch, doch nicht ohne Hoffnung:
"Wann Israels politische Bewegung nach rechts tatsächlich zu einem Ende kommen wird und das Pendel in eine liberale, freiheitsliebende Richtung schwingen wird, vermag ich trotz der jüngsten innenpolitischen Entwicklungen nicht zu sagen. In den nächsten Jahren wird Israel aufgrund der Unfähigkeit und des Unwillens der rechten Regierungen, einen palästinensischen Staat anzuerkennen, wohl weiter auf Kollisionskurs mit den universalistischen Werten des Westens sein. Das könnte kurzzeitig eine Stabilisierung der rechten Politik der Härte mit sich bringen, weil sich viele Israelis von ihr Schutz vor den Anklagen der Weltgemeinschaft erhoffen werden.
Und doch kann ich mir nur schwer vorstellen und will auch nicht recht daran glauben, dass die gegenwärtigen Verwerfungen auf immer Israels Schicksal sind. Meine Hoffnung ist, dass meine Landsleute eines Tages die kosmopolitischen Aspekte der jüdischen Geschichte nicht mehr als Grund zur Scham, sondern als ein Versprechen auf die Zukunft betrachten können. Sowohl die jüdische Leidensgeschichte als auch die faszinierenden Geschichte der Kreativität und der proteischen Transformationskraft könnten Israel dazu bringen, in der eigenen verschlungenen Geschichte einen neuen Sinn entdecken, nämlich etwas zu dem langen Weg der Menschheit beizutragen, der von düsteren Stammesmythen hin zu der lichteren Einsicht führt, dass wir alle voneinander abhängen, wenn wir auf dieser Erde überleben wollen."
Nun hat die Pariser Historikern Diana Pinto, Tochter italienischer Juden ein Buch vorgelegt, das weniger hoffnungsvoll daherkommt wie Sprengers Buch. Es ist eine Liebeserklärung und eine Kritik zugleich an ein Land, das sie beschreibt als voller Widersprüche. Ein Land, das sich aber dramatisch verändert hat:
"Das Land hat seine geografische und zeitliche Orientierung, seinen politischen Horizont und seine Lebenswelt verändert. Natürlich lässt es sich auf den GPS-Geräten der Welt noch immer am selben Ort finden. Sein innerstes Wesen jedoch hat die eigene, wenig wohlgesinnte Nachbarschaft verlassen, künftig lebt Israel in seinem eigenen virtuellen Raum inmitten einer Globalisierung, die zusehends ein asiatisches Gepräge annimmt."
Nach wie vor wollen die meisten Israelis mit ihren arabischen Nachbarn nichts zu tun haben und sie haben auch kein Interesse mehr am Friedensprozess. Es geht um alltägliche Probleme, wie Mieten und Preise. Die früher so hoch beschworene „Jischuw“ – Gemeinschaft ist einem beziehungslosen Nebeneinanderher gewichen. Viele Menschen in Israel wollen miteinander nichts zutun haben. Es gibt kaum eine gesellschaftliche Interaktion zwischen den Gruppen, die etwas nach vorne bringen würde. Das führt Diana Pinto zu dem Bild von einem autistischen Staat
"Und damit diese nicht allzu oft die Oberhand gewinnt, kann das Land eine dritte Option wählen: Den Autismus. Dieser Rückzug junger, oft hochintelligenter Menschen auf sich selbst ist für jene kennzeichnend, denen es nicht gelingt, sich in der Welt der anderen vorzustellen, den Blick der anderen, die Gefühle der anderen wahrzunehmen, und die daher nicht wissen, wie sie mit ihnen reden oder auch richtig an ihren Aktivitäten teilhaben sollen, weil sie deren Motive nicht verstehen."
Pinto wagt einen sehr skeptischen Blick in die Zukunft. Während Sprenger nicht glaubt, „dass die gegenwärtigen Verwerfungen auf immer Israels Schicksal sind“ sieht Pinto allein schon in der demographischen Entwicklung ein Problem:
"Man muss sich darüber im Klaren sein, dass der für die jüdischen Israelis so angenehme Status quo nicht unbegrenzt fortdauern kann. Die Geschichte und die Völker bewegen sich, zwar nicht unbedingt in die ideale Richtung des Fortschritts, aber sie bewegen sich. Das Israel von heute, das sich mit einer Mischung aus Angst, kreativer Energie und Selbstzufriedenheit am Rande der Überheblichkeit vorwärtsbewegt, kann so nicht fortbestehen."
Wie es fortbestehen kann, weiß sie auch nicht, doch sie hofft es. Nachdenklich formuliert sie ihre Beobachtung mit stiller Bewunderung für das Land, seine Leistungen und seine Menschen.
Die Perspektiven sind nicht gerade rosig. Dennoch noch einmal Carlo Sprenger:
„Sowohl die jüdische Leidensgeschichte als auch die faszinierenden Geschichte der Kreativität und der proteischen Transformationskraft könnten Israel dazu bringen, in der eigenen verschlungenen Geschichte einen neuen Sinn entdecken, nämlich etwas zu dem langen Weg der Menschheit beizutragen, der von düsteren Stammesmythen hin zu der lichteren Einsicht führt, dass wir alle voneinander abhängen, wenn wir auf dieser Erde überleben wollen."
Wer sich literarisch den gegenwärtigen Problemen Israel nähern möchte, dem möchte ich zwei Neuerscheinungen ans Herz legen:
Assaf Gavron, Auf fremdem Land, Luchterhand Literaturverlag 2013
Eshkol Nevo, Neuland, DTV 2013
Diana Pinto, Israel ist umgezogen, Jüdischer Verlag 2013, ISBN 978-3-633-54265-9
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2013-09-26)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.