Per Pettersons Romandebüt „Sehnsucht nach Sibirien" ist ein Buch von außergewöhnlicher innerer Schönheit und Anmut. Es erzählt von einer Geschwisterliebe ganz eigener Art, von politischem Widerstand gegen die Nazis im besetzten Dänemark und von den Träumen der beiden Geschwister. Jesper, der drei Jahre ältere Bruder, politisch früh bewusst und auch aktiv, möchte gerne Marokko besuchen und all die Städte, von denen er gelesen hat. Seine 1926 geborene, zu Beginn ihrer Ich-Erzählung 13 Jahre alte , namenlose Schwester, träumt und sehnt sich nach Sibirien, das sie am liebsten mit der Transsibirischen Eisenbahn erreichen möchte.
Und das Buch erzählt von einem bemerkenswerten Schicksal einer sehr früh auch politisch gereiften jungen Frau. Schon bald ist sie die Klassenbeste und alle ihre Noten sind Einser. Doch der beruflich erfolglose Vater und die bigottisch-fromme Mutter verweigern ihr den weiteren Bildungsweg auf das Gymnasium.
Beide Geschwister sind Büchernarren, sie durchwandern gemeinsam ihre äußere und innere Welt, diskutieren über den Spanischen Bürgerkrieg und stehen dort auf der Seite der Syndikalisten.
Auch die drohende Gefahr aus Deutschland ist ihnen bewusst, und als die Nazis in Dänemark einmarschieren, leisten sie aktiv und passiv Widerstand. Sie ohrfeigt öffentlich den örtlichen Gestapo-Chef und Jesper beteiligt sich an Aktionen, mit denen dänische Juden über das Meer nach Schweden gebracht werden.
In Folge einer solchen Aktion muss Jesper fliehen und auch seine Schwester verlässt das Land und arbeitet in Oslo im Cafe einen entfernten Verwandten. Sie lebt für die damaligen Verhältnisse sehr emanzipiert, auch in ihrer Sexualität, und ist all diese Zeit innerlich sehr mit ihrem Bruder verbunden.
Als sie dann, einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, inzwischen 23 Jahre alt und seit einigen Tagen gewollt und glücklich schwanger von einem Mann, mit dem sie aber nicht zusammenleben will, einen Brief ihres Bruders aus Marokko erhält, in dem dieser seine Rückkehr nach Dänemark ankündigt, bricht auch sie ihre Zelte in Oslo ab und kehrt in ihren Heimatort zurück.
Dort findet sie ihre Eltern in einer verzweifelten und desperaten Stimmung, erntet wegen ihrer ehelosen Schwangerschaft wüste Beschimpfungen ihrer Mutter und sieht sich mit einer furchtbaren Nachricht konfrontiert, die ihr junges glückliches Leben beendet:
„Ich dachte: ich bin dreiundzwanzig, das Leben ist vorbei. Jetzt kommt nur noch der Rest."
Per Petterson lässt seine Ich-Erzählerin zweimal andeuten, dass sie etwa 60 Jahre alt ist, als sie diese Erinnerungen erzählt. Gerne hätte man mehr erfahren von den Jahrzehnten dazwischen, wie diese bewundernswerte Frauengestalt ihr Dasein ohne den Bruder bewältigt hat. Aber der Bruder ist tot, die Umstände seines Todes unbekannt, die Eltern haben sie verstoßen - es kann nichts Besseres nachkommen.
So endet der Roman eher traurig, vermittelt aber dennoch eine unbändige Lebens- und Hoffnungskraft
Per Petterson , Sehnsucht nach Sibirien, Hanser 1999, ISBN 978-3-446-19657-5
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2013-06-05)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.