Die stummen Langhaarigen in Prag, die Pasolini in dem ersten Artikel mit dem Titel „Die Sprache der Haare“ in dieser Auswahlpublikation trifft, lösen eine Reihe von Gedanken bei ihm aus, die heute vielleicht nicht mehr so leicht nachvollziehbar sind. Einerseits ist er ja selbst ein Linker, andererseits widern ihn die langen Haare an und er versucht dies ideologisch damit zu rechtfertigen, dass das Symbol oder die Semiotik zu austauschbar seien. „Ihre nicht-marxistische Revolution war mir verdächtig“, schreibt er, Luft holend, um sich dann über ihre Stummheit zu mokieren, die sich im Jahr der Studentenrevolte dann doch zu lautstark enthemmt habe. „Von 1968 bis 1970 ist nämlich so viel geredet worden, dass man es für eine Weile belassen könnte.“, schreibt PPP und fügt konspirativ hinzu: „Kein Mensch auf der ganzen Welt kann heute einen Revolutionär aufgrund der physischen Beschaffenheit von einem Provokateur unterscheiden. Rechte und Linke sind körperlich eins geworden.“
Splendid Isolation
PPP untermauert seine ideologische Kritik aber auch mit einem Beispiel. Auf einer Reise nach Isfahan habe er auch zwei Langhaarige getroffen, die gerade dadurch ihre Zugehörigkeit zum Westen zeigen wollten, dass sie lange Haare trugen, und natürlich auch, dass sie etwas Besseres seien, als die anderen. „Diese langen Haare deuteten also rechte Inhalte an.“, stellt PPP fest. Der Kreis hätte sich damit geschlossen, „Die herrschende Subkultur hat die oppositionelle Subkultur aufgesogen und sich angeeignet: Mit diabolischem Geschick hat sie aus ihr eine Mode gemacht.“ Statt gegen ihre Väter zu rebellieren, schließe die Isolation, in der sie sich wie in eine andere Welt, wie in ein „Getto der Jugend“ zurückgezogen hätten, ihre unausweichliche Realität ein. Auch wenn Pasolinis Kritik an der Konsumgesellschaft durchaus berechtigt erscheint, sind seine Schlüsse in diesem Fall nicht jedermanns Sache, da sie vor Augen führen, wie auch er von Vorurteilen gesteuert ist und dies noch dazu gegen potentielle Bundesgenossen. Siehe den Untertitel: „Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft“.
Die Macht der Konsumzivilisation
Wer Pasolini kennt, wird wissen, dass er seine Probleme mit den 68ern hatte und das obwohl – oder gerade weil - er bekennender Kommunist war. Seiner Ansicht nach verstießen sie gegen die „oberste Pflicht des Intellektuellen“, die Fakten kritisch und kompromisslos zu prüfen. Aber auch der Vatikan oder die KPI hätten sich in ihrer Analyse der „`realen´ Lage Italiens“ getäuscht, schreibt er. Die „hedonistische Kultur des Konsums und die daraus folgende modernistische Toleranz amerikanischer Machart“ hätten ohnehin gesiegt. Das „`gute, alte Italien´“ sei kleinbürgerlich, faschistisch, christdemokratisch; „es ist provinziell und verkümmert am Rand der Geschichte“; seine Kultur besteht aus einem „scholastischen, formalen und vulgären Humanismus“. Die Kultur der Konsumzivilisation habe nicht nur die Kulturen der Dritten Welt zerstört, sondern auch in Europa die Werte des „neuen und repressivsten Totalitarismus“ durchgesetzt. Dem Intellektuellen – der von der Bourgeoisie zutiefst und leidenschaftlich verachtet werde, so Pasolini – schiebe man eine „scheinbar vornehme und edle, in Wahrheit jedoch servile Aufgabe zu: er darf sich mit Fragen von Moral und Ideologie auseinandersetzen“.
Weitere Texte handeln von einer linguistischen Analyse eines Werbeslogans, der Kirche, Homosexualität, Abtreibung, der Rolle des Intellektuellen, Konformismus und Toleranz, 1968 und der Revolution.
Pier Paolo Pasolini
Freibeuterschriften
Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft
Herausgegeben von Peter Kammerer. Aus dem Italienischen von Thomas Eisenhardt.
WAT [317]. 2011, 176 Seiten. Broschiert
10,90 €
ISBN 978-3-8031-2317-6
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2015-03-10)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.