„Ich wichs mir keine runter, wenn sie mich einlochen, meinste vielleicht bei mir zuhause wär‘s besser?“, meint einer der Protagonisten, Begalone, in Pasolinis Erstling. Während der erste Teil des Satzes mehrmals in der direkten Rede Begalones vorkommt, offenbart der zweite Teil des Satzes sehr deutlich, was das Leben in den Borgate, den Vororten Roms, ausmachte: es gab nichts zu verlieren. Pasolini setzte den Elendsquartieren der römischen Vorstädte ein unvergängliches Denkmal setzt, vor allem aber auch der unvergleichlichen Sprach und dem Slang der Vorstädte. Aber sein Realismus war selbst den Kommunisten zu viel und so schlossen sie ihn 1948 aus der Partei „wegen obszöner Umtriebe“aus.
Perspektivismus vs Realismus
„Pasolini wählt scheinbar die Welt des römischen Subproletariats als Thema, doch den wirklichen Inhalt seines Interesses bildet ein morbider Geschmack am Schmutzigen, am Verworfenen, am Unanständigen und am Trüben…“, äußerte etwa Carlo Salinari seine marxistische Kritik. Denn mit seinem ersten Roman stellte sich Pasolini auch außerhalb der Partei. Dreiundreißig Strafverfahren sollte sich Pasolini allein für „Ragazzi di vita“ einholen. In der Zeitschrift „officina“ antwortet Pasolini seinen Kritikern mit einer scharfen Polemik, und bezieht sich auf Lukács und dessen Geißelung des „Perspektivismus“. Für die KP(dSU) müsse sich eine realistische Literatur auf eben diesen gründen „während in einer Gesellschaft wie der unseren der Zustand von Krise, Schmerz, Spaltung nicht einfach im Namen einer als Perspektive gesehenen Gesundheit verdrängt werden kann“. Vor Gericht wurde Pasolini u.a. von Carlo Bo mit den Worten verteidigt: „Das Buch hat einen großen religiösen Wert, weil es zur Barmherzigkeit gegenüber den Armen und Entrechteten aufruft. Ich habe nichts Obszönes in dem Roman gefunden.“ Menschheit wie Marmelade
Sein Vater hatte seiner Mutter falschen Schmuck geschenkt und starb an einer Leberzirrhose. „Und weil jeder Zeugnis über das ablegt, was er kennt, blieb mir gar nichts übrig, als Zeugnis über die römische Borgata abzulegen“, so Pasolini in einer anderen Entgegnung auf seine Kritiker. „Eine repressive Welt ist gerechter, gütiger, als eine tolerante Welt; denn in der Repression erlebt man große Tragödien, sie bringt Heiligkeit und Heroismus hervor. In der Toleranz definiert man die Verschiedenheiten, man analysiert und isoliert Anomalien, schafft Ghettos. Ich würde lieber zu Unrecht verurteilt als toleriert.“, sagte Pasolini wörtlich in einem Interview mit Natalia Aspesi, weniger als zwei Jahre vor seinem Tod. Eine Art „ritornello“ im Roman ist auch das Lied von Claudia Villa „Zoccoletti“, das immer wieder vorkommt und von einem der Protagonisten gezwitschert wird. Dort heißt es u.a.: „Chi mi voleva bene m'ha lasciato/perchè l'amore mio non l'ha capito/e son rimasto solo e innamorato.“ Pasolinis Roman über Ricetto und seinen Freunde, die, von Eltern, Gott und der Welt verlassen, durch die Eingeweide der römischen Hauptstadt flanieren, arm wie Kirchenmäuse, doch mit einer Arroganz von Königen, gehen durch Dantes Inferno, das Pasolini in einem bigotten Italien aus Kirche, politischen Parteien und Energiekonzernen verortet. Und wenn Borgate einen umbringt, wie eingangs erwähnt, dann tut er dies doch nur, um zu überleben: „Ich wichs mir keine runter, wenn sie mich einlochen, meinste vielleicht bei mir zuhause wär‘s besser?“
Pier Paolo Pasolini
Ragazzi di vita
Roman
Aus dem Italienischen von Moshe Kahn.
WAT [614]. 2014
240 Seiten. Broschiert
11,90 €
ISBN 978-3-8031-2614-6
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2015-02-13)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.