So wie sein Vater, den sie bei aller Gegnerschaft respektvoll den „Rebell vom Remstal“ nannten, ist sein Sohn Boris, seit 12 Jahren als Grüner Oberbürgermeister von Tübingen, nicht dafür bekannt, dass er jemals ein Blatt vor den Mund genommen hätte.
Sehr zum Ärger seiner Parteioberen, die ihm schon mehr als einmal nahegelegt haben die Partei zu verlassen. Besonders seine medialen Einlassen zur Flüchtlingspolitik seit 2015 haben immer wieder Widerspruch auf der einen und Zustimmung auf der anderen Seite erregt.
In seinem neuen bei Siedler erschienenen Buch zeigt sich der Kommunalpolitiker auch auf den Pfaden der großen Politik als sicherer und streitbarer Zeitgenosse. Sei es die Wohnungspolitik, die Debatte um die innerstädtischen Fahrverbote, die unsägliche Rolle der Bürgerinitiativen, die den Erfolg der Energiewende gefährden, Stuttgart 21 oder die semireligiöse Debatte um die Klimawandel, überall zeigt er auf, „warum Politik mit der Wirklichkeit beginnen muss“ legt Wert auf die Fakten, plädiert für Vernunft und im Kapitel über die Sicherheit allerdings auch über die Bedeutung der subjektiven Gefühle der Menschen.
Er unterstützt, dass sich immer mehr Menschen über Missstände in der Gesellschaft empören, mahnt aber gleichzeitig in Richtung der Klimaaktivisten und anderer nicht intolerant zu werden.
Frei heraus und ohne falsche Tabus spricht Palmer an, wo er Veränderungsbedarf im politischen und gesellschaftlichen Diskurs sieht. Seine Erkenntnisse zusammenfassend, formuliert er zum Abschluss seines lesenswerten und teilweise provozierenden Buches folgende zehn Thesen, die es wert sind, wahrgenommen und kritisch diskutiert zu werden:
These 1: Innerhalb gesellschaftlicher Bewegungen entstehen vermehrt radikalisierte Kerne
These 2: Die Staatsbürger entwickeln sich zu NIMBYS (not in my backyard)
These 3: Unbequeme Wahrheiten werden ausgeblendet
These 4: Komplexe Probleme werden an Experten delegiert
These 5: Risiken werden falsch bewertet
These 6: Großprojekte werden durchgesetzt, koste es, was es wolle
These 7: Die fortschreitende Spaltung der Gesellschaft reduziert das Gewicht der Fakten
These 8: Empörungskultur und Identitätspolitik lenken von den wichtigen Problemen ab
These 9: Für wirtschaftliche Interessen können Fakten ein Störfaktor sein
These 10: Die höheren Ebenen der Politik nutzen das Erfahrungswissen aus den Kommunen zu wenig
Es sei dringend Zeit für eine neue Aufklärung, sagt Boris Palmer. Ich wünsche seinem Buch und seinen Thesen dass sie im politischen Diskurs unserer Gesellschaft einen Widerhall finden. Wie schon in seinem Buch „Wir können nicht allen helfen“ schwimmt er auch hier oft gegen den Strom, kann sich aber durchaus bei fast allen seinen Themen der Zustimmung eines großen Teils der Bevölkerung sicher sein. Nur müsste diese Mehrheit die Wahrheit und die Fakten auch mutiger aussprechen und einfordern. Wenn sich über die Hälfte nach einer neuen Umfrage nicht mehr trauen, das zu sagen, was sie wirklich denken, ist es an der Zeit, dem entgegenzutreten und zum Engagement zu ermutigen. Boris Palmer tut das mit seinem neuen Buch auf vorbildliche Weise.
Boris Palmer, Erst die Fakten, dann die Moral. Warum Politik mit der Wirklichkeit beginnen muss, Siedler 2019, ISBN 978-3-8275-0124-0
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2019-10-10)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.