Warten auf Ms „Right“:
Chuck Palahniuks „Snuff“ und der moderne amerikanische Familienroman
Warten auf Godot. Warten auf Ms Right. Warten auf Ms Wright. Warten auf Ms Cassie Wright.
600 Männer warten auf Ms Cassie Wright, die einen neuen Weltrekord im Gangbang aufstellen will und noch dazu: dabei sterben will. Denn als gealterte und wohl auch etwas abgehalfterte Pornoqueen erwartet sie sich nicht mehr viel vom Leben und will wenigstens mit einem letzten großen „BANG!“ aus dem Leben scheiden, um dann alles ihrem Kind, das sie seit der Geburt nicht mehr gesehen hat, vererben zu können. Am Beginn ihrer Laufbahn, als gleich ihr erster Mann sie schwängerte, musste sie das Kind nämlich weggeben, es hätte gewissermaßen ihrer „Karriere geschadet“. Aber jetzt, im Alter, will sie noch einmal alles für ihr Kind geben: nicht nur die Tantiemen ihrer zahlreichen Pornofilme, oder das Geld für ihren letzten Film, „World Whore Three: The Whore to End all Whores“, sondern auch ihr Leben, bis zum letzten Atemzug...
Chuck Palahniuk erzählt die Geschichte von Cassie, allerdings nicht aus ihrem Mund. Denn selbst der harmlose Satz „Danke, dass du gekommen bist!“, würde, von Cassie gesprochen, eine ganz andere Bedeutung bekommen. Die Erzähler der Geschichte sind die Männer, die in der Wartehalle auf ihren großen Auftritt warten. Etwa Mr. 72, der sich für Cassies Sohn hält, oder Mr. 137, der unter seinen verschwitzten Achseln einen Hund mit Autogrammen der bekanntesten weiblichen Celebrities des 20. Jahrhunderts trägt. Die anderen 598 Männer, die nur mit einer Unterhose bekleidet in dem Film-Studio sitzen und warten und sich „schmieren“ bis sie endlich zu ihrem Schuss kommen, kommen als Masse auch zu Wort, sie werden von Palahniuk beschrieben in vielen abscheulichen und ekligen Details, bei ihrer Körperpflege etwa, wie sie sich mit Sonnenmilch einschmieren oder an ihre Körperbehaarung mit einem stumpfen Rasierer abschaben. Unter den nach Sonnenöl, Alkohol und abgestandenem Schweiß stinkenden Männern befinden sich aber auch ein paar, die Cassie persönlich kannten und auch immer noch zu kennen glauben. Eigentlich ist sogar die - im amerikanischen Sinne - ganze Familie von Cassie im Wartesaal versammelt, nur weiß sie das noch nicht. Sheila, die muntere Assistentin, hat derweilen die Aufgabe jeweils drei Komparsen aufzurufen, aber diese haben keine Namen, sondern nur Nummern und natürlich kommt der Nummer 600, der letzten Nummer, dabei eine ganz besondere Bedeutung zu. Die Filmshots werden nämlich so gedreht, dass jeder Mann mit seiner auf dem Arm gemalten Nummer einmal zu sehen sein muss, nur so ist der neue Weltrekord von der Amerikanerin Houston oder der Polin Klaudia Figura einzustellen. Und die Nummer 600 ist „Branch Bacardi“, der König aller Pornofilme und auch er will zur amerikanischen Familienzusammenführung gewissermaßen sein Scherflein beitragen.
Cassie Wright lässt er zwar fast gar nicht zu Wort kommen, dafür darf man aber in Sheilas Gedanken Einsicht nehmen. Jedes Kapitel trägt eine Zahl und wird von dem Mister mit der dazugehörigen Zahl in der Ich-Form abwechslungsweise erzählt. Das stiftet beim Leser etwas Verwirrung, denn eigentlich haben nur Sheila und Cassie einen Namen, auch wenn es da noch aus ganz bestimmten Gründen eben diesen „Branch Bacardi“ gibt, der einen trägt. Die eigentlichen Protagonistinnen dieses im Pornomilieu spielenden Schundromans sind die Frauen, denn um sie dreht sich bekanntlich alles. Zumindest in der Männerwelt:„Wenn es auf dem Gipfel des Mount Everest oder auf dem Mond eine allzeit bereite Gratismöse gäbe, hätten wir längst einen Hochgeschwindigkeitszug dorthin gebaut. Eine regelmäßige Raketenverbindung eingerichtet, Flüge alle zehn Minuten.“ (O-Ton) „Schund“ meint hier übrigens folgerichtig kein Qualitätsurteil, ich denke da eher an das englische „Pulp“, Pulp Fiction und nicht nur der Regisseur dieses anderen Schundfilms, Tarantino, sondern auch Charles Bukowski himself hätte dieser neue Roman von Chuck Palahniuk wahrscheinlich die Schamesröte ins Gesicht getrieben. Chuck Palahniuk nennt die Dinge beim Namen, da kommen nicht nur verbale Kraftausdrücke vor, die in ihrer Vulgarität ihresgleichen suchen, sondern auch Titel von zig pornographischen Filmen (etwa: „The Handmaids`s Tail: ein klassischer gesellschaftskritischer Porno“), die so absurd sind, dass sie schon wieder genial sind und obwohl sie aller Wahrscheinlichkeit nach erfunden sind, sogar doch wieder stimmen könnten. Gottseidank wurde dabei auf eine Übersetzung ins Deutsche verzichtet.
Obwohl die einzelnen Kapitelüberschriften quasi auf „Anonymität“ bedacht sind - sie nennen nur den Titel Mr mit der jeweiligen Nummer versehen - verzichtet Palahniuk nicht ganz auf Namen, schon gar nicht auf die großen. Da sind einerseits die Filmtitel der Pornos (Chitty Chitty Gang Bang, die Verballhornung des Kinderfilmes als erstes Porno-Musical (!) ist dabei noch der harmloseste Porno-Titel) und deren Regisseure, andererseits aber auch die ganz großen Namen aus der Filmindustrie. Chuck Palahniuk hat sich einiges Wissen über ehemalige Filmgrößen angelesen und deren „babylonische“ Geschichten (Anspielung auf Kenneth Angers „Hollywood Babylon“ aus dem Palahniuk wohl seine Informationen bezogen hat) extra für seinen Roman ausgegraben. So habe etwa Marilyn Monroe, mit Schmerzmitteln voll gepumpt, gerne ein Bad in Eiswürfeln genommen, nur damit ihr Hintern und ihr Brüste für ihren Auftritt „fest aufrecht und stramm“ (O-Ton) genug wären. Richard Burton wiederum wäre während der Dreharbeiten zu „Night of Iguana“ beinahe gestorben, als er einen Leguan festhielt, durch den gerade 110 Volt Strom schossen. Natürlich ist dies alles amüsant zu lesen, auch, dass sich nach Rudolph Valentinos Tod mehrere Dutzend Frauen ebenfalls das Leben genommen hätten und dass das Preußischblau seinen Namen von Zyankali ableite, aber man wird das Gefühl doch nicht los, dass Chuck Palahniuk eigentlich doch nur seinen etwas mageren Plot auffetten wollte. Da hilft auch Elisabeth Kübler-Ross nicht wirklich, um intellektuell noch etwas Gas geben zu wollen, selbstverständlich in einer ironischen Ellipse eingebettet, die nur Eingeweihte verstehen können. Und zuguterletzt vergisst Chuck Palahniuk natürlich auch nicht auf Annabel Chong, das reale Vorbild seiner Cassie, die innerhalb von zehn Stunden mit etwa 80 Männern vor der Kamera Sex gehabt hat, was dann als „Weltrekord im Gangbang“ vermarktet wurde. Chong war es auch, die die Geschichte der römischen Kaiserin Messalina – die Palahniuk in seinem Buch ebenfalls verwendet - für eine Ausstellung verwendete und dafür vom Magazin Esquire den „dubious achievement award“ erhielt. Inzwischen hat aber auch Annabel Chong die Realität längst eingeholt: die Amerikanerin Houston oder die Polin Klaudia Figura schliefen in derselben Zeit wie sie mit mehr als 600 Männern. Man sieht also, dass auch die Idee für dieses Buch von Chuck Palahniuk nicht von ihm selbst stammt, sondern tatsächlich „aus dem Leben gegriffen“ ist.
Es muss sicherlich unheimlichen Spaß gemacht haben, dieses Buch zu schreiben. Auch das Erfinden von Protagonisten wie Branch Bacardi, in seinem Elend so gut getroffen wie John Steinbecks Lennie Small (in „Of Mice and Men“), hat dem Autor sicherlich unglaublichen Genuss bereitet. Die Persiflage auf „Vater`s Rat an den Sohnemann“ vor dem romantischen „ersten Mal“ ist Palahniuk wirklich außerordentlich amüsant gelungen. Auch die Technik der Pornofilmmacher, immer mit drei Männern eine Szene zu drehen, damit die Spermaproduktion ob der vermeintlichen Konkurrenz auf Hochtouren gebracht wird und damit bessere Cumshots zu filmen sind, scheint ausreichend wissenschaftlich abgesichert zu sein. Zumindest biologisch mag man dem Glauben schenken, faktisch mag es dann wohl eher so aussehen, dass einer von dreien ihn schlicht nicht hochkriegt. In jedem Fall eine sehr gelungene Milieuschilderung mit fundierter Hintergrundrecherche, möchte man hier ironisch anmerken.
Aber abgesehen von diesen kleinen Feuerwerken am Rande, hat man das doch alles schon einmal irgendwo gehört. Ich musste bei Branch Bacardi zum Beispiel an den Film „Boogie Nights“ von Paul Thomas Anderson (1997) denken, als der Protagonist, Eddie Adams, gespielt von Mike Wahlberg, voll mit Koks und Marihuana in einem zu einer Badewanne umgewandelten überdimensionalen Weinfass sitzt und sich seinen neuen Künstlernamen in großen blauen Leuchtbuchstaben vorstellt: „DIRK DIGGLER“. Ähnlich muss es wohl auch Chuck Palahniuk ergangen sein, als er „Snuff“ geschrieben hat. Alle die Vulgaritäten und Schweinereien, die er sich wohl als kleiner Junge schon immer vorgestellt hat, einmal zu verwenden, um groß damit rauszukommen, kommen in „Snuff“ zu großen Ehren. Und in diesem Sinne hat er wohl auch einiges mit seiner Pornoheldin Cassie gemeinsam, die vor ihrem Abgang, noch einmal so richtig auf den Putz hauen will. Als Schriftsteller ist Chuck Palahniuk nämlich seit „Fight Club“ ausgebrannt. Und das schon mit 46 Jahren. Als kleiner Trost sei ihm gesagt: auch in der Pornoindustrie altert man schneller und danach kann man eben nur mehr auf bessere Zeiten warten. Oder auf Godot. Oder auf Ms Wright. Oder auf Ms Right. Ms Cassie Wright.
Kurz und gut: ich habe mich köstlich amüsiert und bin vor Neid erblasst, dass sich da einer einfach seine Jugendphantasien auf so nachhaltige Weise erfüllt hat und das obwohl er eigentlich nur von der Realität abschreibt, wie Houston und Klaudia Figura uns schamhaft erkennen lassen. Snuff: The Book to End All Books.
CHUCK PALAHNIUK
Snuff
Roman
Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz