Anna Michaelis, die Protagonistin des neuen Romans von Angelika Overath, laut Jochen Schimmang „eine der eigenständigsten Stimmen in der deutschsprachigen Literatur“, ist eine 50-jährige erfolgreiche Journalistin. Als sie eines Tages, wie beiläufig von ihrem Mann erfährt, dass er eine sehr viel jüngere Geliebte hat, eine Kollegin an seiner Schule, wo er als Lehrer arbeitet, mit der er auch ein Kind bekommen will, da verlässt sie sofort das Haus und fährt zum Flughafen. Dort setzt sie sich in den ersten Flieger, den sie bekommen kann. Er fliegt nach Edinburgh. Von dort aus wird sie noch weitere Städte und deren Gemäldegalerien besuchen - eine Reise ins Ungewisse, mit Städten, die sie nicht kennt und in denen sie zum ersten Mal ist.
Und mit Bildern von bekannten und weniger bekannten Malern. Die dort abgebildeten Personen haben alle eines gemeinsam. Sie zeigen dem Betrachter ihre Rückenansicht. Die betrachtet die Bilder, um nach dem großen Schock wieder so etwas wie Boden unter die Füße zu bekommen, "frischverlassen, sich wie fünf fühlend. Wie fünf, oder fünfzehn. Ein Alter, in dem man gerade schreiben lernt. Oder lieben. Frisch verlassen, mit einem flatternden Ich."
Die Museen und Galerien, die sie in den Städten überall auf der Welt aufsucht, findet sie so etwas wie Halt und Orientierung:
"Museen waren sichere Orte. Tarnkappen. In ihren Räumen musste man sich nicht verhalten. Im Grunde war man gar nicht da. Die Bilder waren da, und man selbst konnte untergehen in ihrem Muster oder sich wegschauen in das Leben anderer. Bilder hatten eine einladende Überzeugungskraft. Sie waren versöhnlich, gesammelte Zeit. Schon geleistete Erfahrung."
Doch die Bilder bleiben nicht nur Objekt ihrer Betrachtung, sie beginnen mit Anna zu sprechen. Die abgebildeten Frauen auf den Bildern erzählen ihrer Betrachterin mit leiser Stimme etwas über deren Seelenleben, über ihre Erschaffer und diverse Hintergründe. Und sie geben Anna stets einen vagen Hinweis auf ihr nächstes Ziel, ihren nächsten akustisch-visuellen Aufenthaltsort. Aber auch auf ihre eigene Befindlichkeit und ihr eigenes Leben. Von Edinburgh nach Kopenhagen, über Boston und St.Moritz, nach Paris und schließlich nach Skagen führt sie ihre Reise, für die sie offenbar sie ausreichenden finanziellen Mittel hat.
Überall entdeckt sie etwas für sich selbst und ist am Ende wieder bei sich selbst angekommen. Der Leser hat unterdessen Maler und Bilder und deren Geschichten kennengelernt durch eine wunderbare und poetische Prosa, die ihn beim Lesen immer wieder regelrecht gefangen genommen und verzaubert hat.
Angelika Overath, Sie dreht sich um, Luchterhand 2014, ISBN 978-3-630-87349-7
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2014-11-15)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.