Henning Ottmann - Geschichte des politischen Denkens Band 4.1 – Das 20. Jh.
Profunde Darstellung internationaler Denksysteme
Das 20. Jh. war ein äußerlich, aber auch in den dahinterliegenden philosophischen und ethischen Denkansätzen ein äußerst bewegter Zeitraum. Monarchien, Weltkrieg, Oktoberrevolution, Weltwirtschaftskrise, Nationalsozialismus, 2. Weltkrieg, Holocaust, Wirtschaftswunder, Wiedervereinigung, ein Jahrhundert häufiger europäischer Neuordnungen, aber auch weltweiter Veränderungen und Ideologien.
Den äußeren Ereignissen korrespondieren entsprechende Geisteshaltungen und Denkrichtungen, die in hohem Maße die Wurzeln für den äußeren Gang der Geschichte bilden.
Henning Ottmann legt im nun 8. Teilband, dem 1. Bind zum 20. Jahrhundert, seiner „Geschichte des politischen Denkens“ diese Entwicklungen zum, durch und über den Totalitarismus hinaus in profunder, verständlicher und breit dargestellter Weise vor. Im Kern ist die erste Hälfte des 20. Jh. in diesem Teilband behandelt, einige Entwicklungen auch nach dem 2. Weltkrieg werden angerissen, bilden aber nicht den Hauptgegenstand des Buches.
Inhaltlich beginnt Ottmann bei den Darstellungen negativer Entwicklungen von Gesellschaften (Dytopien, im Gegensatz zu Utopien, z.B. eines Thomas Morus). Schwerpunkte bilden hier Huxley und Orwell, die mit ihrer stringenten Sicht der Problematiken von Freiheit durchaus einen Nährboden für totalitäre Denkrichtungen bildeten, in denen der Mensch geführt, erzogen, im engen Rahmen gehalten werden muss.
Italien, Russland, Deutschland, aber auch das maoistische China sind die Blaupausen, auf denen konservatives und revolutionäres Denken ihre totalitären Ideen in Gesellschaftsformen umzusetzen versuchten.
Ein ausführlicher Blick auf Max Weber und die Rezeption seiner Theorien, auf das politische Denken in Russland, vor, durch und nach der sozialistischen Revolution, auf die konservative Verengung gerade in Deutschland durch Ernst Jünger, Thomas Mann u.a. führen zu einer umfassenden und sachkenntlichen Erläuterung der grundlegenden Denksysteme von Faschismus und Nationalsozialismus. Im Weiteren wird der Blick auf totalitäre Denksysteme abgerundet durch einen ebenso umfassenden Blick auf die Entwicklung in China vor und durch Mao Tse Tung.
Gerade diese Einlassungen über die chinesische Geschichte erhellen den Blick ungeheuer auf die Komplexität des systemischen Denkens Maos, aber auch auf die Folgerichtigkeit der Kulturrevolution chinesischer Prägung, die das Handeln der politischen Führung in China, trotz mancher Differenzierungen, bis heute in ihrem grundlegenden Menschenbild und ihrem grundlegenden Verständnis von Staat und Staatsführung bestimmt.
Die gedankliche Vorarbeit, Begleitung und Reflektion der Überwindung des Totalitarismus,
geprägt durch Strukturen manchmal fast blinder Ablehnung, verbunden mit den Namen Arendt, Voegelin und Strauß zeigt bis in die Mitte der 50er Jahre hinein nachvollziehbar, welches Gedankengut die junge, deutsche Demokratie und das Gesellschafts- und Staatsverständnis bis heute hin geprägt hat.
Henning Ottmann selbst vermeidet es in bester Weise und tunlichst, pauschale Kennzeichnungen und Werturteile abzuleiten. Gerade diese Kraft zur differenzierenden Betrachtung auch eher obskurer Denkansätze gibt dem Buch seinen eigentlichen Gehalt. Offen und objektiv legt Ottmann Verbindungen, Verflechtungen, Strukturen des Denkens dar, öffnet den Blick für jene Geistesentwicklungen, die zu äußeren Verwerfungen führten, aber auch für jene, die nur äußeren Ereignissen erklärend nachfolgten. In dieser Verflechtung erst ist zu erkennen, wie sich die Weltbetrachtungen- und Geisteshaltungen in gesellschaftlich sichtbaren Veränderungen manifestierten, entweder in gegenseitiger Ergänzung und Weiterentwicklung oder eben gegenseitiger Abstoßung.
Wissenschaftlich gründlich und umfassend erarbeitet und in logischer Abfolge dargestellt ist das Buch sprachlich nicht einfach nach zu vollziehen. Bei Konzentrierter Erarbeitung aber stellt sich heraus, dass es des (hervorragenden) Literaturverzeichnisses zur Weiterarbeit fast nicht bedarf, da Ottmann so gut wie alles Wesentliche zum einzelnen Thema aufnimmt und rezipiert. Für die wissenschaftliche Arbeit bestens geeignet, aber letztlich für jeden politisch interessierten Menschen ein Gewinn zum Verständnis der breiteren Zusammenhänge weltweiter Entwicklungen.
[*] Diese Rezension schrieb: Michael Lehmann-Pape (2010-09-29)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.