Welch ein umfassendes Buch. Schon der äußere Eindruck erschlägt fast. 1307 Seiten, zudem 260 Seiten Anhang (bestens aufbereitet übrigens unter Anmerkungen, einem ausführlichem Literaturverzeichnis, einem Personen- Sach- und Orts- Register). All dies weist zunächst auf eine ungeheure Fleißarbeit des Autors hin, ein Eindruck, der sich von der ersten Seite an bestätigt. In den gewählten Themen, der gründlichen Annäherung an jedes Thema und den vielfachen Verästelungen, denen Osterhammel nachgeht wird deutlich, dass so gut wie alles, was es zum 19. Jahrhundert, dieser entscheidenden, geschichtlichen Epoche auf dem Weg zur Moderne weltweit, zu sagen gibt, im Buch besprochen wird (und gefunden werden kann).
Mehr als nur ein oberflächliches Bild wesentlicher Züge des 19. Jahrhunderts bietet das Buch, bei weitem mehr. Immer und immer wieder versteht es Osterhammel, einerseits in die Tiefe seiner dargestellten Universalgeschichte vorzudringen, ohne andererseits seinen leitenden, roten Faden zu verlieren. Denn nicht nur die industrielle Revolution, der Beginn von Mobilität und wesentliche Werke der Kunst- und Kulturgeschichte finden in diesem Jahrhundert Höhepunkte und Transformationen, auch die Veränderung der zu Beginn des Jahrhunderts noch vorherrschenden Zentriertheit auf Europa hin zu Amerika, aber auch Afrika und Asien findet sich in diesen Jahren des radikalen Wandelns gesellschaftlichen und geschichtlichen Lebens angelegt. Allein schon die Darstellung und Auswertung Forschungsreisen des 19. Jahrhunderts, die die Welt mehr und mehr bekannt machten, an die entlegenen Winkel der Erde vordrangen, dabei nicht nur exotisches Material mitbrachte, sondern auch vielfältige kulturelle Eindrücke und Ideen (die Osterhammel natürlich benennt und in ihren Folgen aufzeichnet) und damit die ersten Schritte zu einer weltweiten Vernetzung einleiteten ist im Kern ein Lehrbuch an sich.
Aber auch die für sich stehende, hervorragende Einleitung und Annäherung an das geschichtliche Thema mit ruhigen, ausführlichen Darstellungen zur medialen Lust (und Sucht) der Zeit, zur Einordnung des genauen zeitlichen Rahmens (wunderbar hier das Kapitel über die Uhr und die damit einhergehende subjektive Beschleunigung der Zeit) und der ein wenig exotisch anmutende, in der Umsetzung aber ein wesentlicher Teil zur grundlegenden Verortung des 19. Jahrhunderts mit seiner lange Zeit aufrechterhaltenen „Miltärgrenze“ zum sogenannten „Orient“ hin darstellt. Neue Blickwinkel eröffnet Osterhammel hier durchaus, indem er vermeintlich geschichtliche Selbstverständlichkeiten auf ihre tatsächliche Wirkung hin überprüft.
Vielfältige, konkrete Beispiele nutzt Osterhammel, um seine Wertungen und Folgerungen prägnant zu untermauern, gerade in der Vielfalt der Fakten und der überaus klugen Darstellung der Wechselbeziehungen erhält das Buch eine tiefe Anschaulichkeit und birgt fundierte Einsichten in die tatsächliche Lebenswirklichkeit der Zeit und folgert aus diesen, sich massiv verändernden, Lebenswirklichkeiten jene Linien heraus, die das Gesicht der Welt bis zum heutigen Tag mitprägten.
Chronologisch übrigens ist das Buch nicht angeordnet, gerade hier liegt der besondere Reiz der je konzentrierten Darstellung der wesentlichen Themenbereiche. Sesshafte und Mobile in ihrer dynamischen Reibung mitsamt der Aufbruchstimmung gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ein genauer Blick auf die Lebensstandards mit ihrem immensen Gefälle zwischen Arm und Reich, der Suche nach Sicherheit und der, fast notwendigen, Bereitschaft zu Risiken sind ebenso Gegenstand ausführlicher Betrachtung, wie der Siedlungskolonialismus, die Stabilität der Imperien (und was solche überhaupt ausmacht), die damit einhergehenden Konkurrenzen, und, und, und.
Jürgen Osterhammel ist in allen Teilen gelungen, was er sich vorgenommen hat, eine globalgeschichtliche Darstellung einer Zeiten wendenden Epoche, die in sich ruhig und stabil an vielen Orten zunächst wirkt und dennoch der Nährboden für vielfache, dynamische Entwicklungen gewesen ist. Das Buch wird in seiner Tiefe und seinem thematischen statt chronologischen Ansatz zu Recht als Meilenstein geschichtlicher Darstellungen angesehen und liegt hier bereits in 6. Auflage vor. Zudem ist es Osterhammel ebenfalls gegeben, flüssig und verständlich, einsichtig und bildhaft zu schreiben und tatsächlich eine Vielzahl neuer Thesen und analytischer Ergebnisse in der Betrachtung des 19. Jahrhunderts vorzulegen.
[*] Diese Rezension schrieb: Michael Lehmann-Pape (2011-02-20)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.