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Hanns-Josef Ortheil - Die Berlinreise
Buchinformation
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Ortheil, Hanns-Josef:
Die Berlinreise

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(Bücher frei Haus)

Über Hanns-Josef Ortheils Kindheits -Roman "Die Erfindung des Lebens" schrieb ich vor vielen Jahren:

"Ortheil hat es in seinem wohl persönlichsten Buch auf eine meisterhafte Weise verstanden, das Gestern und das Heute zu verbinden und zu einer einmaligen Leseerfahrung zu machen.

Schon lange hat kein Buch mehr so mitfühlend vom Leben und der Liebe geschrieben. Ortheils Roman ist ohne jeden Kitsch und ohne jedes Pathos ein Buch, dessen wahre Geschichte noch das härteste Leserherz erweichen wird. Ein Buch über die heilende Kraft der Musik und die lebensrettende Wirkung des Schreibens und der Literatur. Denn niemand wird dieses Buch nach atemlosem und gebannt - mitfühlendem Lesen aus der Hand legen, ohne so etwas wie wirklichen Trost und Ermutigung für sein eigenes Leben gespürt zu haben, wie immer es auch aussehen mag.

Ein großes Buch, ein wahrhaft meisterhafter Roman."

Vielen Menschen ist es bei der Lektüre dieses wunderbaren Buches ähnlich gegangen, und viele werden, so wie ich, danach auch "Die Moselreise" zur Hand genommen haben, quasi der Vorläufer des gleich anzuzeigenden Buches. Von Hanns-Josef Ortheil als Elfjähriger nach der ersten Reise, die er allein mit seinem Vater unternahm, aufgeschrieben und hier zum ersten Mal, mit begleitenden Essays des Autors ergänzt, veröffentlicht, füllt es eine Lücke über entscheidende Tage im Leben von Ortheil, die in "Die Erfindung des Lebens" nur ganz nebenbei erwähnt worden sind.

Es war diese Reise, der dann viele weitere folgen sollten, die der kluge und umsichtige Vater organisiert hatte, um seinem Sohn aus seiner inneren Gefangenschaft herauszuhelfen. Das Buch ist nicht nur ein schöner Reisebericht, in dem sich das schriftstellerische Talent des späteren Autors schon andeutet, sondern auch ein einzigartiges bewegendes und eindrückliches Dokument einer wunderbaren Vater-Sohn-Beziehung.

Etwa ein Jahr später unternimmt dieser kluge und sensible Vater erneut eine Reise mit seinem Sohn. Dieses Mal, wir schreiben das Jahr 1964, geht es nach Berlin, jener Stadt, in der der Vater und die Mutter 1939 ihre erste gemeinsame Wohnung bezogen. Dort stehen noch zwei Koffer mit Habseligkeiten der Mutter, die sie dort zurückgelassen hat. Da die Mutter nicht mitkommen will (es verbinden sich zu viele dramatische Erfahrungen mit diesem Lebensabschnitt) fährt er mit dem Interzonenzug allein mit seinem Sohn. Sie übernachten in einer Pension und treffen sich oft mit alten Freunden.

Der zwölfjährige Johannes, so nennt ihn sein Vater, macht sich in einem Heft wie schon bei der Moselreise viele Notizen, die er dann zu Hause in wochenlanger Arbeit zu einem romanhaften Bericht ausarbeitet, den er 1964 zu Weihnachten seinem Vater schenkt. Im Unterschied zu „Die Moselreise“ bekam Ortheils Mutter diesen Roman nie zu lesen, weil sein Vater befürchtete, er könne zu viele belastende Erinnerungen in ihr wachrufen. Er wanderte, wie Ortheil in seinem Vorwort berichtet, in das Familienarchiv, wo er es erst vor einiger Zeit wiederentdeckte und mit wachsendem Erstaunen las.

Unverändert wird dieses Buch nun veröffentlicht, das wie schon „Die Moselreise“ das große literarische Talent des gerade Zwölfjährigen zeigt, dem es sehr sensibel gelingt, feine Stimmungen aufzufangen und in Worte zu fassen. Er beobachtet die Menschen, die er in Berlin trifft, ganz genau und ihm gelingt es meisterhaft, die Atmosphäre in der eingeschlossenen Stadt zu beschreiben. Er macht sich seine eigenen Gedanken zu Dingen, die er sieht oder Begriffen, die er hört. Als ein linientreuer Stadtführer in Ostberlin etwa einen Lobgesang der DDR anstimmt und ihm der Vater danach erklärt, ein solches Lügen nenne man „Dialektik“, notiert er in seinem Buch:
„Dialektik ist bestimmt etwas sehr Durchtriebenes und Kompliziertes. Jedenfalls klingt das Wort so. Es klingt nach Zaubertricks oder nach einem mehrfachen Axel auf dem Eis, nach dem der Eiskunstläufer plötzlich im Eis verschwindet und sich in Luft auflöst. Ich vermute ‚Dialektik‘ muss man ein Leben lang üben, und selbst wenn man es ein Leben lang geübt hat, kann man mit ihr sehr leicht abstürzen.“

Eine Fülle solche luzider Beobachtungen und Beschreibungen enthält dieser Roman des zwölfjährigen Ortheil. Vor allem seinen Vater und dessen Stimmungen, die dessen Erinnerungen hervorrufen, beobachtet er sehr genau. Nachdem sie irgendwann die beiden vor Jahren in Berlin zurückgelassenen Koffer geöffnet haben, darf der Junge und den Haushalts-und Tagebüchern der Mutter lesen. Sie öffnen ihm einen Teil des Lebens der Mutter, der ihm bisher unbekannt war. Mit einer hohen Sensibilität spürt er, was in seinem Vater vorgeht, und erfährt von ihm nach und nach Details der bewegten und dramatischen Familiengeschichte. Der frühe Tod seiner Brüder, die Kriegserlebnisse des Vaters.

Und immer wieder schreibt er seiner Mama Postkarten zwischendrin, Texte, die von einer großen Liebe auch zu seiner Mutter zeugen, etwa:
„Liebste Mama, ich weiß genau, dass ich heute Nacht von Dir träumen werde. Ich werde davon träumen, wie Du früher durch Berlin gefahren bist und wie Du Dir alles angeschaut hast. Und ich werde davon träumen, wie Du in der Wohnung mit Papa gelebt hast. Schließlich werde ich auch davon träumen, dass ich bei Dir bin, und zwar damals, früher. Das stimmt natürlich nicht, denn ich war ja nicht bei Dir. Aber im Traum stimmt es dann doch.“

Schreibend begreift der Junge, wie das Leben Anfang des Zweiten Weltkrieges für seine Eltern war und geradezu sehnsüchtig sucht er nach einer eigenen Verbindung zu dieser Welt.

Ich habe mich nach der Lektüre dieses faszinierenden Buches gefragt, ob im Jahr 1964 irgendein deutscher Verlag dieses Buch eines gerade Zwölfjährigen veröffentlicht hätte, und welche Wirkung dessen genaue und feinfühlige Beobachtungen insbesondere des gesellschaftlichen Klimas im Berlin des Jahres 1964 gehabt hätte bei der Kritik.

Allen Freunden von Ortheil sei dieses Buch sehr empfohlen. Und wer seinen oben beschriebenen und wertgeschätzten Roman noch nicht kennt und die Beschreibung der ersten Reise - man sollte es nachholen.

Hanns-Josef Ortheil, Die Berlinreise, Luchterhand 2014, ISBN 978-3-630-87430-2

[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2014-06-03)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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