"Piaffe" hat nichts mit der französischen Chanteuse Édith Piaf (eigentlich: Édith Giovanna Gassion) und auch nichts mit dem "Spatz" (franz.: Piaf) zu tun, sondern stammt aus der Dressursprache für Pferde. Piaffe (von frz. piaffer = tänzeln, stampfen) ist eine Kunstgangart, die als trabartige Bewegung beschrieben werden kann. Eva arbeitet als Sounddesignerin oder auch foley Artist, wie es im Englischen heißt. Von ihr handelt dieser außergewöhnliche Film, der in Locarno als sinnliches Meisterwerk gefeiert und mit dem Preis der Jugendjury ausgezeichnet wurde.
Pferdedressur beim Botaniker
Als ihre Schwester Zara (Simon Jaikiriuma Paetau) durch einen Nervenzusammenbruch im Krankenstand landet, muss die introvertierte Ewa (Simone Bucio) deren Job als Geräuschemacherin bei einem Werbefilm für Psychopharmaka übernehmen. Sie vertieft sich schließlich so leidenschaftlich in ihre Arbeit, dass ihr ein Schweif aus dem Steißbein wächst. Mit zusammengebundenen Haaren, einem Pferdeschwanz, und ihrem weiterwachsenden Pferdeschweif trippelt sie die Berliner Spree entlang. Ist ihr das Scharren wie mit Hufen und das Tragen von Steppschuhen zu Kopf gestiegen? Als sie den Botaniker, Pflanzenliebhaber und -züchter Novak (Sebastian Rudolph) kennenlernt und dieser sich ebenfalls von ihrem Neuzugang begeistert zeigt, eröffnen sich (nicht nur sexuell) neue Möglichkeiten. Denn der neue Schweif ist vor allem ein sinnliches Erlebnis. Körper und Identität trägt sie dann in einer in satten Farben aufgenommenen Metamorphose auch ins Kino und Berliner Clubnächte. Plötzlich entwickelt Ewa durch das neue Körpergefühl auch ein neues Selbstbewusstsein, das ihr ein neues Erleben ihres bisherigen eher grauen Lebens ermöglicht.
Blumen für Berlin
Die aus Tel Aviv stammende Künstlerin und Filmemacherin lebt und arbeitet seit 2015 in Berlin. An der School of Visual Arts in New York lernte sie Film und Bildende Kunst. Schon in ihrer dokumentarischen Arbeit "The World Is Mine" (2017) erkundete sie das Thema Verwandlung durch Verkleidung anhand des Cosplay-Phänomens. Das Eintauchen in fiktive Charaktere scheint ihr ein besonders Anliegen zu sein. Zu Piaffe erzählte sie einer ZEIT-Jouralistin: "Ich bin als Kind nur kurze Zeit geritten. Aber die Psychologie der Pferde- und Reiterinnenwelt hat mich immer interessiert. Das Verhältnis zwischen Pferd und Reiterin. Reiten ist teuer. Meistens helfen Mädchen im Stall, beim Striegeln. Dafür dürfen sie manchmal aufs Pferd. Sie werden vom caretaker zu jemandem, der das Pferd lenkt und führt. Doch sie können auch jederzeit wieder abgeworfen werden. Da liegt eine ständige Spannung in der Luft." Aus dieser Spannung entstand "Piaffe", ein Film, der das spannende Thema der Identität durch eine weitere interessante Spielart erweitert. Dies sei vor allem Berlin zu verdanken, denn dort habe sie - anders als in New York - endlich ein Umfeld gefunden, in dem man sich austauschen und zusammenarbeiten könne.
Ann Oren
Piaffe (Blu-ray)
Mit Tristan Bumm, Simone Bucio, Sebastian Rudolph, Simon Jaikiriuma Paetau
Sprachen: Deutsch, Englisch
2024/2020, Drama, ca. 86 Minuten, FSK 16
PLAION PICTURES
16,99 €
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2024-02-29)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.