Jenny Offill erzählt in ihrem neuen Roman „Amt für Mutmaßungen“ eine zunächst völlig alltäglich und normal anmutende Geschichte. Da ist eine junge und auch ehrgeizige Schriftstellerin in New York. Sie heiratet den Mann, den sie liebt und wird, nachdem sie zunächst eine Fehlgeburt erlitten hat, beim zweiten Versuch Mutter. Ihr Traum ist in Erfüllung gegangen. Das Baby ist für sie das Ein und Alles. Eine ganze Zeit lebt sie sozusagen nur für das kleine Menschenkind und verliert alles andere aus dem Blick, auch ihren Mann, den sie doch so sehr liebt.
Das ist etwas völlig Neues in der Geschichte ihrer Beziehung, in der bis zur Geburt von Lia kein Blatt Papier zwischen die beiden Partner ging. Alles wurde miteinander besprochen, und wenn sie kurz getrennt waren, schickten sie sich Briefe, die sie mit dem Absender „Amt für Mutmaßungen“ versahen.
Doch nun verkümmert das alles. Die Schwester der Frau, die zunächst in der Ich-Form erzählt, später mitten in der Krise jedoch zu einem lapidaren „die Frau“ wechselt, um später gegen Ende dann scheinbar zu sich selbst zurückzufinden, sagt: „Ihr führt eine Ehe mit Samthandschuhen.“ In einem „Kleinen Theater verletzter Gefühle“ versuchen die Frau und ihr Mann diesem zunehmenden Schweigen etwas entgegenzusetzen, mit wenig Erfolg. Die Frau ahnt es und bald hat sie Gewißheit: ihr Mann hat eine Beziehung zu einer jüngeren Frau.
Bei einer Therapeutin und einem Freund, den sie den Philosophen nennt, sucht sie Rat, ebenso bei zahllosen oft unvermittelt in den Text eingestreuten Zitaten von Schriftstellern und anderen. Die Frau ergeht sich in grenzenlosem Selbstmittleid, fantasiert über Suizid und Klinikaufenthalt.
Eine Änderung ergibt sich, langsam zwar, aber stetig, als die Familie den Wohnort wechselt und aufs Land zieht. Eine Chance für alle. Ein Ausspruch eines Rabbis steht symbolisch dafür: „Drei Dinge gegen einen Vorgeschmack auf die künftige Welt: der Sabbat, die Sonne und die eheliche Liebe“.
Jenny Offill beschreibt eine Ehe, die in die Krise kommt und der es gelingt, sich zu retten. Sie tut das aber in einer derart dichten, ja eindringlichen Sprache, mit einer Offenheit und Ehrlichkeit, die den Leser fordert und ihm direkt unter die Haut geht, an manchen Stellen mitten ins Herz. Der Leser, der sich atemlos bis ans Ende liest, wird hin- und hergerissen zwischen Euphorie und Ohnmacht, zwischen Hoffnung und Verzweiflung.
Es ist ein Buch über den Zwiespalt einer Mutter zwischen ihrem Kind und ihren beruflichen Hoffnungen. Alltag für unendlich viele Frauen, unbekannter und unerkannter Gefühlskontinent für die meisten ihrer Männer.
Jenny Offill, Amt für Mutmaßungen, DVA 2014, ISBN 978-3-421-04622-2
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2014-12-02)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.