Joyce Carol Oates ist nicht nur einer der wichtigsten amerikanischen Autorinnen von Romanen, sie hat in den letzten Jahren sich auch als Schöpferin wichtiger und tiefgehender Jugendbücher auf sich aufmerksam gemacht.
Auch in ihrem hier vorliegenden Buch erzählt sie eine Geschichte einer Kindheit und Jugend, eine schwierige Geschichte, die handelt von Schuld und falscher Erinnerung, von Flucht aus der Realität durch Drogen und Alkohol und von der großen Chance, sein Leben wieder zu gewinnen, es in die Hand zu nehmen, Enttäuschungen Stand zu halten und lernen zu lieben.
Der Roman erzählt die Geschichte von Jenna. Er beginnt mit der dramatischen Schilderung eines Autounfalls, während dem Jenna für einen Sekundenaugenblick etwas sieht, dann aber wieder vergisst. Als sie Tage später in einem Krankenhaus aufwacht, hat sie nicht nur alles vergessen, sondern auch ihre geliebte Mutter verloren. Dennoch: da ist etwas, ein Funken von Erinnerung, ein Lichtblitz des Gehirns, das immer wieder an die Oberfläche des Bewusstseins will, aber nicht kann. Vor allen Dingen deshalb nicht, weil die Schuld, die Jenna am Tod ihrer Mutter spürt, so groß ist, dass sie alles andere überdeckt. Alle geben ihr die Schuld am Tod der Mutter, glauben, dass Jenna ihr ins Lenkrad gegriffen und das Auto so in den Abgrund gezwungen hat. Das jedenfalls will Jenna in den Augen der anderen Menschen lesen, die Schuldgefühle lassen sie fast paranoide Züge entwickeln.
Sie lebt bei ihrer Tante, die sie nach dem Unglück aufgenommen hat, weil Jennas Vater sich schon aus ihrem Leben verabschiedet hat, als sie noch klein war. Er taucht jetzt wieder auf, will Jenna zu sich holen und zu seiner neuen Frau und seinem neuen Kind, doch Jenna spürt seine Unaufrichtigkeit und bleibt bei der Tante. Innerlich hat sich Jenna abgetötet: sie will nie wieder etwas fühlen, nie wieder verletzbar sein. Ihre Tante gibt sich Mühe, versucht sich ihr liebevoll zu nähern, aber Jenna wehrt alles brüsk ab und flüchtet immer mehr in Medikamente und Alkohol.
Als sie eines Tages dem von allen anderen Mädchen umschwärmten Crow in der Schule begegnet, ist sie sofort fasziniert von ihm, wagt sich ihm aber nicht zu nähern. Doch als sie eines Tages im Park stürzt und er ihr liebevoll aufhilft, beginnt eine Beziehung, die Joyce Carol Oates auf eine wunderbare Art schildert und beschreibt. Über viele Hürden muss diese Beziehung gehen, bis Jenna begreift , was sie von diesem Crow lernen kann, einem ganz außergewöhnlich reifen Jungen, dem das Leben auch schon so manchen Strick gedreht hat und der dennoch oder gerade deswegen früh zu einem Mann geworden ist. Jenna spürt, mit seiner Hilfe kann sie es schaffen, auch wenn sich ihr größter Wunsch leider nicht erfüllen wird....
Ein sprachlich anspruchsvoller Jugendroman, wunderbar komponiert und bewegend in Szene gesetzt. Allen jungen Menschen ab etwa 14 Jahren auf das Wärmste zu empfehlen.
Joyce Carol Oates, Nach dem Unglück schwang ich mich auf, breitete meine Flügel aus und flog davon, DTV 2015, ISBN 978-3-423-62608-8
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2015-06-01)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.