Mit dem Erscheinen seines Romans „Niederland“ wird der in Irland geborene, in den Niederlanden aufgewachsene und in New York City lebende irisch-türkische Anwalt Joseph O´Neill als Autor eines berechtigten Bestsellers gefeiert. Der Roman erschien erstmals 2008 bei Fouth Estate in Großbritannien, erstürmte sofort den englischsprachigen Buchmarkt und liegt nun in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Niederland“ vor.
Die Hauptfigur Hans van den Broek ist ein niederländischer Banker, der für sein Bankhaus im Ölgeschäft tätig ist und mit seiner Frau von London nach New York City geht, die dort einen Job bekommen hat wo er selbst schnell wieder in seiner Branche Fuß fasst. Mit seiner Frau und dem kleinen Sohn erlebt er dort das Drama des 11. September mit seinen psychologischen und politischen Folgen. Während seine Frau die Konsequenzen, die die Bush-Administration aus dem Terrorakt zieht, nicht einverstanden ist und sich nicht mehr wohl fühlt, hält van den Broek an New York fest, weil er sich aus unbestimmten Gründen von dieser Stadt nicht lösen kann. Während seine britische Frau mit dem Sohn zurück nach London geht und die Ehe eine lange Trennung und Krise durchlebt, bleibt van den Broek in New York City. Im Taxi lernt er dann einen Pakistani kennen, der ihn zum Cricket einlädt. Van den Broek, der diesen Sport in seiner niederländischen Heimat als Junge selbst gespielt hat, folgt der Einladung und trifft auf einem alten Gelände auf Gouvernor´s Island eine aus Einwanderern ehemaliger britischer Kolonien bestehende Gemeinde, die das Cricketspiel als eine Art der kulturellen Identität pflegt.
Dort lernt er auch Chuck Ramkissoon aus Trinidad kennen, der sich mit seiner neuen Heimat, den USA, identifiziert und sich und sein natives Erbe in die Neue Welt retten will. Im Laufe ihrer mehr als zweijährigen Bekanntschaft bemerkt van den Broek die vielen Seiten Ramkissoons, der nicht nur das Cricket kommerzialisieren will, sondern auch in dubiosen Wettgeschäften mit einem jüdisch-russischen Strohmann tätig ist und eigenartigen Immobiliengeschäften nachgeht. Trotzdem fasziniert van den Broek die Leidenschaft Ramkissoons und seine ungeschmälerte Begeisterungsfähigkeit, dessen Alltagsfinesse und Orientierungsstärke in einer Geographie der Intransparenz. Was den Westindie und den Niederländer verbindet, ist die Suche nach Identität, ohne die Wurzeln zu leugnen. Obwohl in unterschiedlichen Welten und Wertesystemen aufgewachsen, teilen sie die Suche nach Heimat und die Reflexion über die Frage, wie viel man aus der alten Lebenswelt als Gepäck in die neue nehmen kann, um das eigene Dasein nicht zur Tristesse verkommen zu lassen. Nachdem van den Broek nach London zu seiner Familie zurück gegangen ist, was ihn nicht glücklicher macht, erfährt er, dass Chuck Ramkinsoons Leiche in Ketten auf dem Grund eines New Yorker Kanals gefunden wurde, wo sie lange gelegen haben muss. Die genauen Umstände bleiben im Dunkeln, weil sie für die Botschaften des Buches unerheblich sind. Beide scheitern, der eine kehrt unglücklich in eine ihm ebenfalls fremde Welt zurück, der andere geht im wahrsten Sinne des Wortes unter.
Joseph O´Neill gelingt mit seinem Roman Netherland eine großartige Erzählung, die ohne das schwülstig-romantische von Heimat bezogenen Reflexionen auskommt. Vielmehr wird deutlich, dass das vertikale Spannungsfeld des Heimatbegriffs biographisch keine eindeutige Verlaufslinie von unten nach oben aufweist. Es sind nicht die Niederlande, aus denen van den Broek stammt, sondern es ist das fragmentarische Niederland, dass dem Konzept New Yorks zugrunde liegt und es ist nicht das traditionell akribische Reglement des Cricketspiels, das faszinieren kann, sondern seine zivilisatorische Botschaft, die den Reiz für die Überlebenseliten ausmachen kann. Van den Broek, dessen melancholische Erzählstimme man bei der Lektüre immer im Kopf hat, berichtet von der großen Reise des Alten Europa in eine Neue Welt und seiner Begegnung mit seiner eigenen kolonialen Vergangenheit. Es ist ein Epos von Abschied und Findung, wobei der Abschied immer dominiert. Der von der Utopie getragene Optimismus sorgt für eine Dynamik, die nicht ohne Trauer auskommt bei der Suche nach dem, wie Ernst Bloch es in seinem Prinzip Hoffnung ausdrückte, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2009-06-20)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.