Der 1933 geborene Niederländer Cees Nooteboom wird häufig als Reiseschriftsteller bezeichnet, was ihn zu Unrecht auf ein Genre reduziert und seine Romane ausblendet. Dennoch ist Nooteboom ohne seine Reisen nicht denkbar, zahlreiche Veröffentlichungen beziehen sich auf diese von ihm lebenslang verfolgte Passion. Die Assoziation, die der Begriff Reisebericht hervorruft, ist allerdings nicht geeignet, Nootebooms literarisch nacherlebte eigene Reisen zu beschreiben. Dort geht es nicht um Impressionen und leicht verdauliche Fakten ohne längere Wirkung, sondern Nooteboom, der schon als junger Mann als Tramp auf der Flucht vor dem Dogma war und bis heute alle Weltmeere bereist hat, liest die sich ihm darbietende Welt mit dem Hunger des sich Bildenden und dem gewaltigen Assoziationspotenzial eines Weltbürgers.
Mit Schiffstagebuch ist eine weitere Sammlung über Nootebooms ungewöhnliche Reisen erschienen. Der Titel bezieht sich auf zwei Unternehmungen, der Rest ist mal mit dem Schiff, mal mit dem Flugzeug, doch zumeist liegen die Ziele am Wasser. In insgesamt sieben Berichten, die zuweilen als Traktate und zuweilen als Reflexionen zu lesen sind, schildert Nooteboom seine Bewegung vom Kap Hoorn nach Montevideo, wird Zeuge der Rituale und der hinter ihr stehenden kalten Ökonomie am Ganges, berichtet über ein niederländisches Kriegsdrama aus Broome, dem tropischen Teil Australiens, durchwatet die blutigen Plätze im Herzen Mexikos, schippert sich wie ein Inselhopper von Mauritius bis in die alten Hochburgen der Buren in Südafrika, steuert die selbst von der Temperatur zutreffenden Requisiten des Kalten Krieges auf Spitzbergen an und erkennt in einer Art post-kolonialem Trauma des Kolonisten auf Bali die spirituelle Dimension der Unterlegenen.
Folgt man den Ausführungen Nootebooms, so ist die historische Dechiffrierung dessen, was sich vor einem auftürmt stets eine gewaltige Leistung des Historikers, der sich mit den Fakten nicht begnügt, sondern sie nur begreift als Mittel, um philosophisch zu deuten. Dabei gelingt es ihm, nicht mit der Attitüde des Welterklärers zu langweilen, sondern er vermittelt sehr wohl die Mühen dieses Prozesses. Das Privileg des Reisens selbst wird durchaus begriffen, der Preis und die freie Entscheidung dazu ohne großes pädagogisches Zeremoniell sachlich benannt.
Cees Nooteboom kann nur in einem Atemzug mit dem Briten Bruce Chatwin oder dem Polen Ryszard Kapuscinski genant werden, die ihrerseits die Tiefe und Dimension besaßen, um die fremden Welten in Bezüge zu setzen, die sie verständlich machen. Nootebooms Exklusivität geht in einem Punkt über die Genannten hinaus, seine Texte sind die Logbücher des philosophischen Flaneurs der Moderne, wie Walter Benjamin ihn als Modell in seinem Werk über die Pariser Passagen entwickelte. Die kritische Reflexion selbst und libertäre Assoziation sind bei ihm die wesentlichen Werkzeuge eines Erkenntnisprozesses, der weit über das hinaus geht, was selbst gute Reiseliteratur zu vermitteln in der Lage ist.
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2012-01-24)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.