”eines Morgens kam Wind auf // warf die Vögel hoch, dass ihr / Zwitschern sich angstvoll / entfernte, trat mir das Glas / ein und randalierte in den / Vitrinen: ich schrie um mein / Leben (…)”
Eine Dramatik in kleinen Wörtern und Portionen – damit fängt der erste Teil von Marcus Neuerts Gedichtband “Irrfahrtenbuch” an. Der erste Teil heißt “eines Morgens kam Wind auf” und trägt eine Ahnung mit sich. Alles ist so wie es ist, aber es könnte auch anders werden.
Der erste Teil des Irrfahrtenbuchs besteht aus Landschaftsbildern und aus poetischen Postkarten, die Landschaften und Orte beschreiben. Das Wegwollen ist noch nicht wirklich zu spüren, die Reise fängt noch nicht an. Ganz im Gegenteil, viele Gedichte sind hier bewegungslos, man hat mehr Angst davor, es könnte sich etwas ändern, aber auch Angst davor, alles könnte so lähmend bleiben wie es ist, bis in die Unendlichkeit:
“Dreisamtal bei Lehen // der Sommer ein Dom aus Licht / im Dornbusch lauschen die kleinen Sänger / ängstlich dem heiseren Schrei der Milane: / Jagden über aufgeworfenem Korn // Wind spielt die Harfe / der Überlandleitungen / die Drähte zerschälen den Himmel / Segment um Segment / überm Fluss, der die breiten Stufen / hinabrauscht, schnurgerade bis zum Horizont / schwirren Mücken unablässig / die liegende Acht der Unendlichkeit“
Die sich ankündigende Bewegung ist ein Hin und Her zwischen einem Festhalten am Alten und dem Wissen, dass es auch anderes gibt. Mal ist das Alte eine Perücke („Das eigene Leben zur Perücke machen, keine Lücke hinterlassen auf dem Hintergrund: das ist die ganze List.“), mal ist es das Wetter, das das Wissen davon erzählt, dass es mehr gibt: „Flaute trotz Wind. Vakuum, wo auf Bewegung zu hoffen gewesen wäre.“ Oder auch die Aussicht:
Eine spannende Rolle spielt die Sprache in diesem Spiel zwischen Bewegung und Bewegungslosigkeit. Ich finde drei Rollen der Sprache.
Die eine Rolle ist die Sprache als Weg aus der Bewegungslosigkeit. Direkt angesprochen wird diese im Prosagedicht „Tübingen, Neckarufer. Mitte des Lebens“:
„(…) Profangregorianik um ihrer selbst willen, denn niemand hört zu außer dir und deinen dreiundzwanzig Denominationen, die stets diesen unseligen Drang haben, dazwischen zu quatschen, wenn du zu tun versuchst, als seist du ein Anderer. Sie reden lassen, derweil eine unreife Birne ins Wasser werfen im Gedanken an Hölderlin. Ahnen vielleicht, welches Wort stimmt. Welche Stimme die wirkliche ist.“
Die zweite Rolle hat mit meiner persönliche Rezeption zu tun: Welch eine wohltuende Sprache, die genauer ist als viele meiner Gedanken, die mich zum Denken leitet und davon erzählt, dass es tatsächlich noch viel mehr gibt. Marcus Neuert benutzt eine Sprache, die viel mehr anspricht als den Verstand.
Aber nicht nur. Es gibt diese dritte Rolle der Sprache in seinen Texten, die mich ratlos lassen. Es sind die Wortspiele und Poetikregeln, deren Zweck mir ein Geheimnis bleibt. Vielleicht sind sie das Humorvolle in einer Situation, in der es sonst nichts zu lachen gibt. Vielleicht sind sie ein Weg, hinter den Alltagsworten das Eigentliche zu suchen: „Die erwogenen Optionen, Schere im Kopf versus Schnappschusspistole, das Einäschern der Eiligenbildchen.“
Im zweiten Teil „in diesem spröden Landstrich“ kann ich diese dritte Rolle der Sprache als Wegweiser einer Reise verstehen. Sie ist es, was Marcus Neuert vom Alten mitnimmt, wenn er auf eine Fahrt ins Unbekannte startet.
Die Reise und die Bewegung fordert eine neue Sprache, die Neuert beim Reisen – wie auch das Reisen selbst – erlernt:
„Erschrecken also vor dem eigenen Gestotter, vor ungelenken Gesten, die ein Gegenüber als Drohung deuten könnte (…), erst recht erschrecken vor der Blindheit des Spiegels, die mich zu zeigen gänzlich verweigert. Doch ein Aufatmen: wenn ich nicht wäre, so wäre an ein Erschrecken doch gar nicht zu denken. Dieses Erkennen lässt meine Lippen ein schüchternes un caffè, per favore formen. Verstehendes Lächeln, va bene, signore. Es scheint, dass ich angekommen bin.“
Im dritten Teil „das Schweigen der Jahre“ würde man den Reisenden ein glückliches Ankommen wünschen. Das wäre zu einfach - und nicht so wie das Leben ist. Der Reisende im Irrfahrtenbuch kommt an, jedoch nicht im Triumphzug, sondern als ein Mensch mit Vergangenheit:
„(…) das Geschwür hört eines Tages einfach auf zu wachsen, wird gar kleiner und kleiner. Das Computertomogramm bestätigt es. Sein Ichsein kehrt zurück, und doch ist es wie verwandelt. Die Erinnerungen kehren zurück als das was sie sind: Erinnerungen, nicht das Jetzt. Jetzt lernt er sich selbst auszufüllen, auch den Platz, den das Geschwür eingenommen hat. Will niemand anderes mehr sein.“
Im vierten Lyrikband von Marcus Neuert (Free Pen Verlag) kann sich der/die LeserIn daran erfreuen, was eine bravouröse, genaue und frische Sprache alles vermag: Man wird auf eine Reise mitgenommen, die nicht nur von Ort zu Ort führt, sondern in weitere Welten, die nicht nur physisch existieren. Marcus Neuert ist ein wunderbarer und vertrauenswürdiger Reiseführer, man muss sein Buch immer wieder lesen als ob man in einem Fotoalbum blättern würde: Ach ja, dort waren wir, dort war ich glücklich, diese Stelle hat mich beunruhigt. Beim jedem Blättern findet man neue Details, die in weitere Welten führen.
Tarja Sohmer
[*] Diese Rezension schrieb: Tarja Sohmer (2015-11-04)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.