Lyrikkalender, das erinnert an die Abreißkalender, die in den 1960er Jahren verteilt wurden. Jeder Tag wurde zur geistigen Erbauung mit einem Sinnspruch belegt.
Welche freudige Überraschung jedoch, als ich den Tischkalender des Verlegers Shafiq Naz von Alhambra Publishing in die Hand bekam:
„Lieben Sie Gedichte?“ spricht mich der Verlag auf der stabilen Rückseite des hervorragend aufgemachten Kalenders an – und antwortet umgehend, da der Verleger meine Antwort anscheinend zu kennen scheint: Wir auch! – stillschweigend voraussetzend, daß Sie naturgemäß Gedichte schätzen und lieben. Denn welcher Mensch liebt nicht die Sprache der Lyrik, die ihn doch lebenslang in allen lustigen und allen unheilvollen Lebenslagen begleitet, die ihn ständig umgarnt und umgibt: die Sprache der Lieder und Songs, die Sprache der Vögel und Vierbeiner, die Alltagssprache der Stuben und Straßen, die Sprache der Küchengeräte und Autos, die Sprache der Sterne und Wolken, die eigene, die fremde Sprache des Scherzes, des Schmerzes (nicht zu vergessen die vielen Fachsprachen) – alle voll von schier unendlichen Alliterationen und phantastischen Metaphern, angereichert mit gekreuzten und gepaarten Reimen, lautmalenden, knirschenden Wörtern, wie ich an anderer Stelle über den Kalender lese.
Mein Problem beginnt damit, daß sich die gebotene Vielfalt kaum würdigen läßt. Damit stehe ich nicht allein da, kompetente Buchkritiken werden durch geschmäcklerische Literaturtipps ersetzt. Die seriöse Buchauswahl verschwindet, stattdessen wird alles zur Geschmacksfrage degradiert. Der Markt beeinflusst die Wahl, bestimmt die Vorlieben und etabliert Werte. Selbst wenn Besprechungen nett gemeint sind, steht darin immer etwas, das erkennen läßt, daß nicht begriffen wurde, was die Autoren bei der Schreibarbeit tatsächlich beschäftigt hat. In den seltensten Fällen wird die ursprüngliche Aufgabe des Kritikers noch befolgt, über Literatur zu schreiben, bevor man sie beurteilt.
Wenn man jemanden hervorhebt, benachteiligt man den Einen oder die Andere. Daher ein subjektiver Hinweis auf meine Lieblingsgedichte. Der Lyrikers Axel Kutsch verknüpft Assoziationen zu einem Bewußtseinsvorgang, der zwischen den Zeiten vermittelt, das Vergangene hervorholt, Träume realisiert und so Gedanken ins Sprachbild bringt. Es ist diese offene Form des Schreibens, die ihn immer am meisten interessiert hat. Eine offene Form, die sich selbst bildet. Kutsch entwirft das Bild einer chaotischen Welt, aus der einen keine Geschichtsphilosophie, Meta-Erzählung oder Religion retten kann und feiert in seinen Gedichten gerade deshalb die Freiheit des Einzelnen:
Manchmal traten wir
auf die Bremse der Erinnerung
Aus der Distanz sahen wir
rosafarbene Bilder,
überbelichte und ein wenig verwackelt
Die Bärte der Revolution
waren inzwischen grau geworden,
Die Gesichter erschöpft
wie die Landschaft.
Durch das Vergrößerungsglas der Metaphern
Blickten wird zu den Sternen
Den funkelnden Augen der Metaphysik
(zu finden am 15. Dezember)
Souverän knüpft Theo Breuer an die literarischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts, stellvertretend sei „verinnerung an oskar p.“ genannt. Was im Lehrbuch steht, ist nur ein Ausschnitt aus der Literaturgeschichte. Lyrische Figuren haben ihr eigenes Leben, auch ihre eigene Vorgeschichte. Sie schwingt mit in den Zeilen, grundiert die Handlungen. Theo Breuer komplettiert seine Vorstellung von der lyrischen Moderne. Er entwirft, basierend auf der Literaturgeschichte, eine Art von Lyrik, die über diese literarischen Vorlagen hinausreicht. Die große Gabe von Theo Breuer ist es, das, was man liest, wie soeben geschehen aussehen zu lassen. Immer wieder gibt es diese Momente in seiner Lyrik, Szenen, die sich im Gedächtnis festsetzen, die nicht verlierbar sind – eine Art Triumph der Literatur.
wortlos
zwei wörter irren unbegrenzterweile
(lassen zwanglos unflektiert sich treiben
wollen nichts als sich am andren wort bloß reiben)
zwecklos durch die krüppelige zeile
ursprünglich ist es – unverfälschtes schnuppern
berühren blicken ballen schweifen
das eine kriegt (natürlich) einen steifen
fängt dicht zu drängen an zu ... tuppern
das andere fällt rasch auf seinen rücken
nur so (ahnen sie) kann die begattung glücken –
die da wortwörtlich beieinander liegen
(zwei kryptomere einsilbige verben)
träumen wie sie ungereimt durch verse fliegen
da greift der dichter ein [sie sterben]
A.J. Weigoni gehört zu den meistunterschätzten Lyrikern, sein Schaffen erzeugt eine Poesie, die von der Rezeption das Äußerste an Selbstpreisgabe verlangt. Oft wird im Literaturbetrieb übersehen, daß gerade aus solcher Herausforderung die Subjektivität des– oder derjenigen, der oder die sich auf diese Kunstwerke eingelassen hat, sich auf Dauer verändert – die Wahrnehmungsfähigkeit, die Weltsicht, das Zulassen von Gefühlen.
As dime goes buy
Rick's café americain
ist zu weit weg
um dort Stammgast zu sein
nur manchmal
in den Træumen
koennen wir dort sein
um beim endlos kreiselnden Ventilator
einige Klavierklænge
zu hoeren
die Sam
immer noch spielt
Geschenkempfehlungen abzugeben ist nicht meine Sache nicht. Hier aber geht es um mehr, ein Geschenk, daß man sich mit der Lektüre jeden Tag machen. Man sollte mit Superlativen vorsichtig sein, aber in Bezug auf die Lyrik ist es so: Wir leben geistig in ganz guten Zeiten, so aufregend war deutsche Lyrik seit dem Barock nicht mehr.