Die Beschreibung „Das prächtigste Kamasutra, das es je gegeben hat“ ist bei dieser Luxusausgabe in Seide gebunden und in Riesenformat gedruckt wohl sogar noch untertrieben. Die Schmuckkassette in der das 7,8 kg (!) schwere Buch daherkommt ist so wunderschön, dass man sie beinahe als „Tabernakel der Lust“ an die Wand hängen möchte, wenn dies nicht an Häresie grenzen würde. Auch was das Innenleben dieser Publikation angeht, kann man bei der Beschreibung mit Superlativen nicht sparen. Die Reproduktion der Illustrationen von wunderschönen historischen Zeichnungen aus z. B. der Asiensammlung des Victoria and Albert Museum in London, machen diesen Prachtband zu einem wahren Schmuckstück. Wenn man bedenkt, dass das Kamasutra in unseren Breiten erst im 19. Jahrhundert bekannt wurde und es aber schon im 3. nachchristlichen Jahrhundert entstanden ist, wird man schnell zugeben müssen, dass mit dieser neuen Publikation der Collection Rolf Heyne der indischen Liebeslehre (siehe Untertitel) endlich jener Stellenwert eingeräumt werden könnte, den das Kamasutra zweifellos verdient.
Zu Unrecht werde das Buch als bloßes Sex-Stellungsbuch verunglimpft, denn es gehe vor allem um das Verhältnis der Geschlechter zueinander, das sich nicht nur durch die Erotik ausdrücke. So zeigt Sudhir Kakar, der das Vorwort zur vorliegenden Ausgabe des Kamasutra schrieb, dass das Kamasutra eben nicht nur ein Sexhandbuch, sondern ein Lehrbuch für ein erfülltes Liebesleben mit all seinen erotischen Facetten sei. Fleischliche Aktivität als religiöse Pflicht anzusehen machte Vatsyayanas Werk zum maßgeblichen Manifest seiner Hochkultur, wie die Autorin selbst, Sandhya Mulchandani, in ihrer Einleitung betont. Die indische Gesellschaft sei zwar patriarchalisch gewesen, aber in punkto Lust waren die Geschlechter gleichberechtigt. „Liebe ist notwendig, um den Geist zu stillen, so, wie Ethik das Gewissen zufriedenstillen soll. Ohne Erotik bleibt der Geist ruhelos und unzufrieden, ohne Spiritualität kommt es zur Dekadenz.“ Mit diesen Worten umreißt Sandhya Mulchandani das Spannungsfeld des Kamasutra und auch dessen Bedeutung für die westliche Welt im 21. Jahrhundert. In Zeiten der sexuellen Reizüberflutung sei das Erlernen von Erotik dringend wieder notwendig, denn dass sich unsere Zivilisation zwar „oversexed, aber underfucked“ in das 21. Jahrhundert hinübergerettet hätte, dem wird man als unter dem gegenwärtigen sexistischen Konsumterror Leidender ohnedies mutwillig zustimmen. Dass Zivilisation nicht unbedingt etwas mit Kultur zu tun hat, beweist eben auch das Kamasutra und der Umgang mit demselben in der westlichen Zivilisation.
Sandhya Mulchandani, die in Neu-Delhi lebende Journalistin und Schriftstellerin, hat mit der Herausgabe dieser Kamasutra-Version sicherlich in mehrerlei Hinsicht Geschichte geschrieben. Auch wenn sie in ihrer Nacherzählung des Kamasutra hauptsächlich auf Illustrationen zurückgreift und nur wenige Originalstellen zitiert, wird der geneigte Leser doch auch an ihrem Text einiges Vergnügen finden, wie etwa das Kapitel sieben, das mit „Agents Provocateurs“ betitelte. Hier geht es vor allem um praktische Ratschläge, etwa wie man die Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann, die Anziehungskraft steigern könne oder Aphrodisiaka, Zaubersprüche oder gar Behexung im Liebesleben einsetzen könne. Wer allerdings genaueres darüber erfahren möchte, sollte sich dann doch beim Original von Vatsyayana darüber erkundigen. Mulchandani gibt zwar eine reich bebilderte Einführung an den (westlichen) Leser weiter, wofür sie nicht nur die Archive des Victoria and Albert Museums in London, sondern auch zahlreiche andere Institutionen bemüht hat: Corbis, Fritzwilliam Museum in Cambridge, Lance Dane, The Bridgeman Art Library, Warner Forman Archive in London. Das gesteigerte Interesse an fernöstlichen Liebespraktiken wird in dieser Publikation aber trotzdem nicht nur illustrativ befriedigt. „Ein Mann sollte nicht Sklave seiner Leidenschaften werden“, schreibt sie im Schlusswort und mit Vatsyayana warnt sie vor exzessivem Genuss, denn nur die Mäßigung und die Geduld führten zum Ziel. In weiteren Kapiteln geht es um „Amouröse Avancen“, „Bräute und Vermählungen“, „Privilegien der einzigen Ehefrau“, „Die Ehefrauen anderer Männer“ oder auch um die „Wege der Kurtisanen“.
SANDHYA MULCHANDANI
KAMASUTRA
Die indische Liebeslehre
320 Seiten Format 35 x 45 cm
In Seide gebunden, durchgehend sechsfarbig gedruckt, in Schmuckkassette aus Seide