Herfried Münkler ist nicht nur einer der führenden Köpfe der zeitgenössischen Politologie in Deutschland, sondern auch ein Querdenker und, einmal aus der ihm zugewandten Werbung zu zitieren, ein Ein-Mann-Think-Tank. Ihm verdanken wir intelligente und gut geschriebene Bücher wie das über die Neuen Kriege, in denen die Asymmetrie als Prinzip freigelegt wurde, er brachte uns Gedanken zu den Lebenszyklen und systemischen Verhaltensmustern von Imperien nahe und er räsonierte geistreich über die Mythen der Deutschen. Immer versprühten diese Bücher Esprit und sie waren neuen, exploratorischen Gedanken auf der Spur. Mit seinem neuesten Werk, Maß und Mitte, greift Münkler ein Thema auf, das in Deutschland immer Konjunktur hat und der Autor zeigt uns auch, warum.
Ausgehend von der Frage, warum die Mitte in Deutschland über verschiedene historische Perioden eine Faszination wie keine andere politische Positionsbestimmung ausübt, begibt sich Münkler auf einen vom Leseempfinden her sehr langwierigen Weg, um an das Ziel zu kommen, das die meisten Käufer des Buches im Titel vermuten: Eine Analyse der gegenwärtigen Zentrierung der Politik in Deutschland und eine Prognose über Impulsgeber für eine politische Innovation.
Münkler beginnt seine Abhandlung mit Betrachtungen zur semantischen Besetzung des Begriffs der Mitte. Er dokumentiert das Ringen um die Mitte anhand bestimmter Formulierungen aus der Geschichte. Im nächsten Schritt widmet er sich den philosophischen Betrachtungen über den Konnex von Mitte und Macht. Dabei beginnt er bei Aristoteles und Cicero und landet bei Hegel, bevor er zu den großen Zerstörern des Mittegedankens Nietzsche und Marx anlangt.
Von der Philosophie dringt der Autor zur Geometrie vor und er verweist in verschiedenen Kontexten auf das räumliche Verhältnis von Mitte, Macht und den wirkenden zentripetalen wie zentrifugalen Kräften. Diesen Punkt erreicht, schlägt Münkler den Bogen zurück zu der in der Einleitung gestellten Frage, inwieweit die gegenwärtige Diskussion um die Mitte eine Momentaufnahme politischer Statik oder das Ergebnis einer historisch einstudierten Tarierungsübung ist.
Leider sind an dieser Stelle bereits 200 der insgesamt 240 Seiten beschrieben. Das zugegebenermaßen in einem ansprechenden Stil und wissenschaftlich solide, aber bereits angesäuselt von in der Anzahl mehr als verträglichen Mitte-Formulierungen vermag der Leser die Konzentration nicht mehr sonderlich gut aufrecht erhalten. Irgendwie wird man den Verdacht nicht mehr los, dass die Mitte ein urdeutsches Phänomen ist und das auch immer so bleiben wird. Nietzsche, wer sonst, erklärte daraus das den Deutschen fast genetisch innewohnende Mittelmaß und der Autor wird auch auf den letzten Seiten nicht müde, heutige Zeitgenossen wie Hans Magnus Enzensberger zu zitieren, der in der Mitte auch was Gutes sieht. Die Idee ist wiederum nicht so luzide, als dass man dafür die ganze Abhandlung lesen müsste.
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2010-10-05)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.